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Ein Beweis, dass Vergessen nicht existiert
In Leipzig gibt es seit kurzem eine Gedenkstätte für ehemalige Zwangsarbeiter
Eine neue Gedenkstätte erinnert an das Schicksal Zehntausender Zwangsarbeiter in Leipzig. Sie ist das Ergebnis akribischer Spurensuche - und die wohl erste ihrer Art in der Bundesrepublik.
Für uns war der Besuch in Taucha noch einmal eine endgültige Befreiung«, schreibt Ruth Elias. Es sei »eine schwere Zeit« gewesen, denn jeder Schritt habe in eine Vergangenheit geführt, »die wir vergessen wollten«, fügt die heute in Israel lebende jüdische Autorin hinzu. Nach Taucha, einen Ort am nördlichen Stadtrand von Leipzig, kehrte sie 1995 zurück, genau 51 Jahre nach ihrem ersten, zwangsweisen Aufenthalt. Damals hatten in Taucha die Baracken gestanden, von denen aus die KZ-Gefangene zur Sklavenarbeit in die Leipziger Hasag-Werke gebracht wurde. Dieses Unternehmen, in dem Panzerfäuste gefertigt wurden, »arbeitet heute bereits mit über 10000 K.L.-Häftlingen«, schreibt der Werksdirektor, Obersturmbannführer Paul Budin, im Oktober 1944 an den Reichsführer der SS, Heinrich Himmler. Er sei, fügt er dankend hinzu, »mehr als zufrieden in Bezug auf Leistung und Haltung«.Elias Erinnerung und das Schreiben Budins sind in einer Ausstellung in der Leipziger Permoserstraße nachzulesen, am Eingang zu einem großen Areal voller Backsteingebäude, die heute das Umweltforschungszentrum (UFZ) beherbergen. Bis zu ihrer Liquidation 1948 produzierte hier die Hugo Schneider AG (Hasag) - zunächst Lampen und Spirituskocher für die deutsche Hausfrau, dann Panzerfäuste für den deutschen Landser.
An dem Pförtnerhaus, in dem die Ausstellung gezeigt wird, wurden ab Juni 1944 die Zwangsarbeiter vorbeigetrieben, die aus Konzentrationslagern wie Buchenwald, Ravensbrück und Auschwitz nach Leipzig verlegt worden waren, weil die Dienstverpflichteten aus Frankreich, Kroatien, Polen oder der Ukraine nicht mehr reichten. Rund 30000 Arbeitssklaven beschäftigte das Rüstungsunternehmen in und um Leipzig. Mindestens 4000, sagt Charlotte Zeitschel und blättert in einem dicken Bündel kopierter Todeslisten, haben nicht überlebt. Die agile 75-Jährige ist, gemeinsam mit einer Handvoll Enthusiasten, für das Zustandekommen der Ausstellung verantwortlich. Die Arbeit daran begann quasi als ein »Nebenprodukt«: Zeitschel leitet den »Förderverein Margarete Blank«, der sich mit dem Schicksal dieser 1945 hingerichteten Leipziger Ärztin beschäftigt. Auf das Schafott kam sie wegen »defätistischer Äußerungen« und ihrer Hilfe für Zwangsarbeiter, denen sie Medikamente beschaffte. Bei der Materialsuche traf man auf jene, denen Margarete Blank geholfen hatte.
»Viel Zufallsforschung, die sich jetzt zu einem Ganzen fügt«, beschreibt Charlotte Zeitschel die akribische Arbeit. Auf die Spur von Ruth Elias etwa führte ein Fernsehbeitrag. Tags darauf telefonierte Zeitschel nach Israel, ein Jahr später begrüßte sie Elias und andere ehemalige Zwangsarbeiterinnen in Taucha. Mit Anna Kotschergina, der im Lager geborenen Tochter eines sowjetischen Zwangsarbeiters, suchte sie zunächst vergeblich Kontakt aufzunehmen - die Briefe blieben unbeantwortet, weil vor 1989 derlei Geschichtsaufarbeitung in der Sowjetunion nicht erwünscht war. Erst zu Beginn der 90er Jahre sah eine Studentengruppe in Kursk eine von Kotschergina organisierte Ausstellung über Zwangsarbeit und stellte den Kontakt nach Leipzig her.
Die Verbindung zu einer früheren französischen Gefangenen schließlich entstand, weil deren Enkel in Leipzig studierte. Sie sei »entsetzt« über die Wahl dieses Ortes gewesen, an dem sie so gelitten habe, schrieb die Französin zunächst - und ließ nach einem Bericht über die Forschungen des Margarete-Blank-Vereins wissen, es mache sie »stolz, dass die Stadt das Andenken bewahrt«.
Nur ein Jahr verging zwischen einem Beschluss der Stadt über die Erinnerungsstätte und deren Eröffnung. Vom Rathaus habe es ebenso gute Unterstützung gegeben wie vom UFZ, das die baulichen Herstellung der ehemaligen Pförtnerloge übernahm, freut sich Zeitschel. Ein Teil der 120000 Mark, die für die Ausstellung nötig waren, stammt aus privaten Spenden. Unter den Spendern sind kommunale Betriebe, die bis 1945 selbst von Zwangsarbeit profitierten.
Abgeschlossen ist die Forschungsarbeit nicht, sagt Charlotte Zeitschel. In Kartons und Ordnern liegen viele weitere Dokumente, die auf den zwölf Schautafeln und in den Vitrinen zunächst keinen Platz mehr gefunden haben. Die zwei ABM-Stellen des Vereins laufen im März aus, danach wäre eine Stelle für fundierte Projektforschung »sehr wünschenswert«, sagt die rührige 75-Jährige. Der sächsische Wissenschaftsminister Hans-Joachim Meyer hat in einem Brief immerhin zugesichert, zu prüfen, wie die Einrichtung bei der Überarbeitung der sächsischen Gedenkstättenkonzeption zu berücksichtigen sei. Die Bedeutung der Exposition geht indes noch weit über den Freistaat hinaus - es handelt sich wahrscheinlich um die erste derartige Ausstellung in der Bundesrepublik. »Wir waren von derartigen Äußerungen selbst überrascht«, sagt Zeitschel, »aber widersprochen hat auch noch niemand.«
Erfreut sind die Vereinsmitglieder weniger über diese Vorreiterrolle als vielmehr über die gute Resonanz bei der Leipziger Bevölkerung. Täglich etwa 20 Besucher seien seit der Eröffnung in die Permoserstraße gekommen, sagt Zeitschel - die älteren oft mit eigenen Erinnerungen, die jüngeren mit Neugier und kritischen Fragen. "Denen können wir standhalten", sagt die Vereinschefin und verweist auf teils erschütternde Originaldokumente. Aus Akten des Friedhofsamtes etwa stammt ein Zusatz zur Sterbeurkunde für Franziska Blum, die im Oktober 1944 in Taucha starb: »Auf die Aufbewahrung der Asche des weiblichen Zigeunerhäftlings Nr. 35646«, heißt es dort zynisch, »wird kein Wert gelegt.«
Zu den grausamsten Erinnerungsstücken gehören Zeichnungen, die Pjotr Stefanowitsch Korschenkow aus der russischen Baikalregion schickte. Sie zeigen eine in Flammen stehende Baracke, aus der Häftlinge fliehen. Es sind Erinnerung eines Überlebenden an ein Massaker, bei dem am 18. April 1945 in Abtnaundorf über 300 kranke und geschwächte Zwangsarbeiter von SS-Angehörigen in ein Holzgebäude gesperrt und dieses dann angezündet wurde. 84 Menschen kamen damals ums Leben. 19 von ihnen konnten dank der akribischen Forschungsarbeit des Vereins seither identifiziert werden.
Neben den Bildern hat der heute 80-Jährige Korschenkow auch einen Brief geschickt, auf den Charlotte Zeitschel gern hinweist. Er wolle noch einmal nach Deutschland kommen und sehen, »ob dort, wo wir einst litten, rote Rosen blühen und Kinder spielen«. Friedvoller Alltag an früheren Orten der Grausamkeit - das ist ein Wunsch der Überlebenden. Einen anderen, ebenso wichtigen erfüllt die Leipziger Ausstellung. Ihre Zeit in Leipzig, schreibt Ruth Elias in dem eingangs zitierten Text, habe sie vergessen wollen. Die Rückkehr an den Ort ihrer Peinigung sei jedoch Beweis dafür gewesen, »das ein Vergessen für uns nicht existiert und dass wir gezwungen sind, mit unseren Erinnerungen weiterzuleben«.
Die Ausstellung auf dem Gelände des Umweltforschungszentrums, Permoserstraße 15, ist dienstags bis freit...
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