Der Tag der Lebenden
Tag 10: Eine Geburt und eine Familienzusammenführung
Auf dem Mittelmeer schlagen die Emotionen manchmal aus wie bei einem verrückt spielenden Pendel. An einem Tag Verzweiflung, Hysterie und Sterben, am nächsten dann wieder Hoffnung, Lachen und die Freude, dass es weitergeht. Heute wurde trotz aller grausamen Erfahrungen auf der »MS Aquarius« ein kleines bisschen Geschichte geschrieben. Es war ein Tag der Lebenden. Zwei Familien durchlebten die Ungewissheit der vergangenen Wochen komprimiert in wenigen Stunden. Zur Freude aller mit einem glücklichen Ausgang.
Die erste gute Nachricht beginnt sich während des Sonnenaufgangs abzuzeichnen. Viktoria von »Ärzte ohne Grenzen« hat im Frauenlager Nachtschicht. Als bei der aus Nigeria kommenden Faith die Wehen immer stärker werden, rennt sie zur Kabine der Hebamme Jonquil. »Jetzt, sofort«, schreit sie und hämmert gegen die Tür. Schon eine halbe Stunde später hält die stolze Mutter einen kleinen Sohn in ihren Armen. Die Geburt verlief ohne Probleme. Als Vater Otis von der Nachricht erfährt, wirkt er für einen kurzen Moment erschlagen. Die Überforderung weicht aber in wenigen Sekunden einem Grinsen. Dutzende Flüchtlinge schütteln seine Hände und überreichen auf dem Deck ernstgemeinte Glückwünsche. Die Söhne Victory und Rollres, sieben und fünf Jahre alt, wissen noch nicht so recht, was sie mit der neuen Information anfangen sollen. Sie spielen erst mal weiter, da kann man nichts falsch machen. Die Journalisten an Bord werden ganz aufgeregt. Alle fragen sich, wie das Kind denn nun heißen soll.
»Newman«, wird dann nach langer Diskussion von den Eltern entschieden. Kapitän Alexander Moroz überreicht in Uniform und kurzen Shorts in einer kleinen Zeremonie die Geburtsurkunde. »Danke«, sagt Vater Otis und zeigt seine Zähne. Einen Tag zuvor trieben er und seine Frau noch auf dem Mittelmeer. »Ich stand unter starkem Stress, als ich auf dem Boden des Bootes mit den anderen Frauen und Kindern saß«, berichtet Faith. Sie hatte bereits an der libyschen Küste ihre ersten Wehen gespürt. Der Hebamme Jonquil ist die Erleichterung anzusehen: »Es war eine sehr gewöhnliche Geburt unter extrem-gefährlichen Umständen.« Ihr graut die Vorstellung, wie die Situation in dem Schlauchboot für die Mutter gewesen sein muss. »Familien, schwangere Frauen und Babys müssen ihre Leben im Mittelmeer riskieren, während sie eigentlich Schutz genießen sollten.« Wie könne 2016 so etwas noch möglich sein, fragt sie mich empört.
Die zweite gute Nachricht dann nur wenige Stunden danach: Am späten Vormittag werden von einem italienischen Marine-Schiff über Hundert weitere Flüchtlinge der »MS Aquarius« übergeben. Die Geretteten vom Sonntag müssen Platz machen und ziehen sich auf die oberen Geländer zurück. Als die Frauen und Kinder unter den Neuankömmlingen in den Schutzraum gebracht werden, beginnt ein Mann auf der Brüstung, eingeklemmt zwischen anderen Schutzsuchenden, sich zu freuen. Sein Gesicht zeigt Dankbarkeit und Unglaube, er klopft allen, die neben ihm stehen, auf die Schultern.
Schnell kommt raus: Victor wurde von seiner Frau und seinen zwei Söhnen bei der Abfahrt der Schlauchboote am libyschen Strand getrennt. Mehrere Tage mussten sie sich in Sandkuhlen verstecken und abwarten. Nach seinen Erzählungen haben dann in der Nacht der Abfahrt plötzlich libysche Kämpfer mit Waffen in die Luft geschossen. Alle Flüchtlinge, die für die Schlauchboote vorgesehen waren, sind in Panik losgerannt und in das erste Gefährt gestiegen, das sie erreichen konnten. Victor hatte überlebt. Wie es dem Rest seiner Familie ergangen war, wusste er bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Bevor er seine Frau, die ebenfalls Faith heißt, in die Arme schließen kann, muss er sich noch ein bisschen gedulden. Erst wenn alle neuen Flüchtlinge an Bord gebracht sind, dürfen die alten auch das Deck betreten. Victor starrt weiter ungläubig mit offenem Mund vor sich hin. Dann endlich ist es so weit. Er wartet unten. Die Tür wird aufgemacht. Seine zwei Söhne sehen ihn, strahlen, und rennen auf ihn zu. Seine Frau kommt nach. Alle vier umarmen sich.
Als ich am Nachmittag über das Deck wandere, lächelt mich eine junge Nigerianerin an. Joy ist ihr Name. Die Kapuze ihres Sweatshirts trägt sie tief ins Gesicht gezogen, die schmale Nase lugt neugierig hervor. Sie saß in dem Rettungsboot, indem auch ich mitgefahren bin. Sie sagt, sie ist Anfang 20, doch vielleicht ist sie auch jünger. »Ärzte ohne Grenzen«-Mitarbeiter erklären mir, dass die Menschenhändler oft den jugendlichen Frauen einreden, nach der Ankunft bei den Behörden ein höheres Alter anzugeben. Sie werden dann in dem Registrier-und Asylverfahren anders behandelt und können sich so auch wieder schneller frei bewegen. Die Komplizen der Menschenhändler in Europa haben dadurch einen leichteren Zugriff auf sie.
Joy erzählt mir, dass sie früher als Krankenschwester gearbeitet hat. Ihre Klinik wurde jedoch bei einem Feuer zerstört. Nachdem ihr Vater und zwei von sechs Geschwistern gestorben waren, entschied sie sich zur Flucht. Sie ist eine überzeugte Christin und geht zwei Mal die Woche in die Kirche. Ansonsten mag sie Tanzen, Bier, Dreadlocks und Pizza. Um Libyen zu erreichen, hatte sie alleine die Sahara durchquert. Ich zucke kurz zusammen und schaue in ihr Gesicht. Ihre Mundwinkel senken sich. Unsere bedrückten Blicke verraten einander, dass wir beide wissen, was ihre Worte bedeuten. Wir beschließen gemeinsam, nicht darüber zu sprechen. Und lächeln noch ein bisschen weiter.
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