Der Abschied
Tag 12: Die Flüchtlinge werden an die italienischen Behörden übergeben
Mit dem Sonnenaufgang erwacht das Schiff zum Leben. Die Gespräche verstummen recht schnell, die mehr als 700 Augen begutachten lieber die Ausläufer eines italienischen Industriegebietes, dass sich vor ihnen an der Küste zeigt. Riesige Schornsteine pumpen unentwegt dunklen Qualm in den Himmel, unzählige graue Fabrikgebäude reihen sich aneinander. Einige der Flüchtlinge wollen sich davor fotografieren lassen. Man kann ihren Gesichtern die Aufregung ablesen. Sie scheinen sich dennoch wohl zu fühlen. Der Stress der vergangenen Tage, Wochen und Monate beginnt sich vorerst aufzulösen. Ein kleines Polizeiboot lotst uns in den Hafen von Brindisi.
An der Anlegestelle hat sich ein ganzes Aufgebot an Behörden und Journalisten versammelt. Auch die Nachrichtenagenturen sind gekommen, seit sich die Kunde von dem auf dem Schiff geborenen Baby herumgesprochen hat. Dazwischen immer wieder gelangweilt herumstehende Polizisten und Beamte. Der prägendste Anblick sind jedoch die weißen Anzüge mit ihren Gesichtsmasken. In Zombiefilmen wird sich in dieser Aufmachung vor den fleischfressenden Toten geschützt. Hier vor den Lebenden. Die Mitarbeiter des Gesundheitsministerium sammeln sich vor einem großen Zelt, nur der Bereich zwischen ihren streng blickenden Augen ist zu erkennen. Ein fürchterlicher Anblick, geht es mir durch den Kopf. »Das ist ein netter Empfang. Da hatten wir schon viel Schlimmeres erlebt«, sagt Sarah von »Ärzte ohne Grenzen«. Was, frage ich. »Überall Stacheldraht, Sturmregen, Militärboote und Polizeihelikopter in der Luft.«
Ein Kran platziert eine schwere Metallbrücke zwischen der »MS Aquarius« und dem Festland. Der kleine Mikrokosmos, indem ich die vergangenen zwei Wochen gelebt habe, ist wieder an die europäische Realität angedockt. Hände werden gedrückt, letzte Umarmungen mit den neuen Bekannten ausgetauscht. Ein siebenjähriger Junge fragt, ob er das Plüschrentier behalten darf, dass er in seinen Händen hält. »Elefant«, hat er es immer genannt. Victor trägt seinen kleinen Sohn auf dem Arm. Dieser zeigt mit den Fingern staunend auf die italienischen Häuser, die sich vor ihm erstrecken. Dann geht es los, immer einzeln, Frauen und Kinder zuerst. Die Crew-Mitglieder blicken ihnen mit ernster Miene hinterher.
Auf italienischem Boden werden sie sofort von den weißen Anzügen umringt. Test auf Krankheiten, Test auf Seuchen, Test auf Verletzungen. Wir hatten mit diesen Menschen die zurückliegenden zwei Tage auf engstem Raum verbracht. Dann kommen die Sandalen. An Bord hatten die Flüchtlinge ohne Schuhe gelebt, jeder bekommt jetzt ein passendes Paar ausgehändigt. Die meisten Polizisten schauen dem Schauspiel grimmig zu, die Pistolen fest im Holster sitzend. Ein einziger lächelt und nimmt einen kleinen Flüchtlingsjungen an der Hand. Von den weißen Anzügen überprüft und mit Schuhen ausgestattet, müssen sie sich in langen Reihen anstellen. Immer 50 von ihnen werden dann von Polizisten begleitet zu einer nahegelegenen, leerstehenden Industriehalle gebracht. Ohne uns auszuweisen, rennen wir Journalisten hinterher.
In der dunklen Halle müssen sich alle Flüchtlinge in endlosen Schlangen auf den Boden setzen. Neben ihnen wurden mehrere kleine Zelte platziert, es herrscht reger Betrieb. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das »Rote Kreuz« und »Save the Children« sind anwesend, aber auch die italienische Polizei und die Grenzschutzagentur Frontex. »Jetzt hat sie die europäische Asylmaschinerie«, kommentiert der italienische Fotograf Marco. Sobald alle Flüchtlinge auf dem Boden sitzen, überreichen ihnen Mitarbeiter der Hilfsorganisationen kleine Essensbeutel. Auf dem Schiff bekamen sie am morgen nur ein Brötchen, Tee und Energiekekse und am Abend eingekochten Gemüsereis. Hunger war allgegenwärtig.
Eine Mitarbeiterin des UN-Flüchtlingshilfswerkes steht vor den unsicher blickenden Reihen und klärt sie in wenigen Minuten über ihre Rechte auf. Sie hat kein Megafon, nur die vorne Sitzenden können sie verstehen. Jeder bekommt einen Zettel und eine bebilderte Broschüre, mit denselben Informationen. Dann geht es direkt zur Registrierung. Einzeln müssen die Flüchtlinge zum Zelt der Polizei, um persönliche Angaben zu machen. Dann zum nächsten, indem sich weitere Sicherheitsbeamte mit weißen Anzügen und Atemmasken befinden. Jeder wird mit einer Nummer vor der Brust fotografiert, danach nehmen die mit Computerterminals ausgestatteten Polizisten Fingerabdrücke ab. Die Abnahme kann theoretisch verweigert werden, doch dann drohen juristische Konsequenzen. Die mittlerweile ängstlich blickenden Gesichter sind eingeschüchtert, jeder drückt seine vor Tinte triefenden Finger auf den Scanner.
Gebräunte Männer mit Ausweisen um den Hals bringen die noch mit Nummern versehenen Flüchtlinge in getrennte, abgezäunte Bereiche. Die Logik ist mir nicht klar, womöglich wird nach Familien, alleine reisenden Erwachsenen und unbegleiteten Minderjährigen oder auch nach Herkunftsländern getrennt. Während des gesamten Ablaufs kommen immer wieder Frontex-Mitarbeiter in ihren blauen Westen zu den Reihen, um sich einzelne Flüchtlinge herauszugreifen und zu befragen. Kleine Kinder tragen nun ebenfalls Atemschutzmasken. Ich muss die Halle wieder verlassen. Als ich ein letztes Mal an den Reihen vorbeilaufe, sehe ich viele bekannte Gesichter. Einige winken mir zu, ich versuche die Geste zu erwidern und zu lächeln. Es fällt mir schwer. Ich war einer der ersten Europäer, den sie in ihrem Leben kennengelernt haben.
Eine Mitarbeiterin vom »Roten Kreuz« erklärt mir, dass die Flüchtlinge nun getrennt werden und man sie mit Bussen in verschiedene Einrichtungen nach ganz Süditalien verstreut bringt. Ich verfüge nicht über die Mittel, um sie weiterverfolgen zu können. Ihre Spur verliert sich, als ich unter prüfenden Blicken der Beamten zurück zum Hafen laufe. Dort gibt es schnelle Umarmungen und ein letztes Abschiedsfoto. Die »MS Aquarius« fährt direkt weiter nach Catania, um ihre Vorräte aufzufrischen, bevor sie erneut in See stechen wird. Ein freundlicher Feuerwehrmann fährt mich in seinem Auto zur nächsten Bushaltestelle.
Von meinem Zimmer aus habe ich Blick auf das Wasser. Wir befinden uns auf der anderen Seite des Hafens, der hübschen. Vor mir sind kleine touristische Boote, davor Europäer, die fröhlich umher schlendern, Eis essen und sich auf Bänken von der brütenden Hitze ausruhen. Niemand von ihnen weiß vermutlich von den neuen Besuchern oder den Geschichten, die sie erlebt haben. Mein Blick wandert zu der Fabrikhalle, die ich von dem Fenster aus sehen kann. Nun ist sie wieder leer.
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