Einschärfung und Einladung

Friedrich Schorlemmer schrieb einen Brief nach Rom, es wurde ein Buch daraus. Von Hans-Dieter Schütt

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Einen Weltuntergang wird es nie geben. Nur einen Untergang der Erde - die wir mit selbstverständlicher Arroganz gleichsetzen mit Welt. Ja, unser Planet verschwindet, und jene killende Naturkraft, die das irgendwann bewerkstelligt, wird sich nicht darum scheren, wie sehr wir uns gerade um Frieden und Freiheit und soziale Harmonie bemühen. Kommunismus? Das hält keine Supernova davon ab, zu bersten. Ankunft des Heilands? Das hindert keinen Asteroiden, treffsicher zu sein. Und der Sonne geht auch mal die Hitzepuste aus. Vielleicht geschieht die große Katastrophe übermorgen, vielleicht in Milliarden Jahren.

Das Angedeutete wäre eine Apokalypse höherer Bestimmung. Aber da droht noch der andere mögliche Untergang. Den wir selber betreiben. Atomar, elementar. Es ist unvorstellbar geworden, dass es je eine Situation auf dem Planeten geben könnte, in der die Menschheit wieder selbstvernichtungsunfähig würde - so wie es unmöglich ist, als Erwachsener Unschuld zurückzuerlangen, oder Naivität. Oder einen Frieden, der so aussieht, wie der Löwe in einem Kinderbuch sitzt. Also jagt die Fantasie wie eine apokalyptische Reiterei und malt aus: Schon schreien die Pfauen im Quecksilbergesang, schon tobt das Meer, schon zerbrechen die Eierschalen, schon fällt der schwarze Vorhang, schon wird es nicht mehr hell.

»Die Zeit drängt«, sagt der Theologe Friedrich Schorlemmer in seinem neuen Buch. Sagt es inständig. Er fleht. Fleht freilich zäh in Zuversicht: »Unsere Erde ist zu retten«. So heißt seine Publikation, und im Untertitel bindet sich alles Hoffen an »Haltungen, die wir jetzt brauchen«. Ein Beschwörungstext. Eine Widerstandpauke. Ein Besinnungs- und Besinnlichkeitspamphlet. Ein Notruf. Den Weltuntergang erleben wir wohl noch nicht, in einer Untergangswelt leben wir allemal. Jene Katastrophen, die wir auslösen, sind nur zu stoppen durch das Erschrecken über jene Katastrophe, die wir schon sind. Mit der wirklich tief greifenden Angst vor uns selber begänne eine neue Ehrfurcht vor der Schöpfung.

Ausgangspunkt des Buches ist ein Brief Schorlemmers an Papst Franziskus. »Also aus Wittenberg - der Stadt des Thesenanschlags von 1517 - schreibe ich Ihnen. Dies war die Stadt eines großen, europaweiten Reformimpulses. Und sie war Ausgangspunkt einer schmerzlichen Spaltung der westlichen Kirche.« Ein Protestant schreibt nach Rom, ans katholische Zentrum. Er schlägt ein ökumenisches Konzil vor. Schreibt also gegen die traditionell gewordenen »dogmatischen Streitigkeiten«. Stirn gegen Stirn? Nein, nunmehr und fürderhin Aug in Aug! Das Allparteien-Gesundungsrezept.

Der Lutherstädter ist ganz erfasst von der päpstlichen Enzyklika »Über die Sorge für das gemeinsame Haus«. Sie ist ihm »ein Trompetenweckruf, eine Hoffnungsfanfare für Einsicht und Mitfühlsamkeit«. Hohe Worte reagieren aufs hohe Wort. Aus schmerzender Scham: Denn »auch wir Christen lassen infolge unseres Reichtums ungezählte Menschen in wirtschaftlicher Armut und Ohnmacht zugrundegehen und trennen uns damit von dem Gott der Armen.« Schorlemmer schreibt’s, als sei dies der einzig wahre Gott. Und: als könne man von Gott gar nichts verlangen - man kann nur von sich selbst etwas verlangen. Leben im Möglichkeitsdrang. Der Pfarrer ist überzeugt: Schafft den Konjunktiv ab, und ihr werdet Gott getötet haben. Wo der Mensch nicht hilft, stirbt Gott. Er stirbt im Übrigen auch dort, wo du von ihm verlangst, er müsse Ahnung von Feedback haben.

»Haltungen, die wir jetzt brauchen« - Schorlemmer wählt sie zu Kapitelüberschriften: Ehrfurcht vor dem Leben - Verantwortung übernehmen - Vorausdenkend handeln - Eingreifen und tun, was recht ist - Den Weg des Friedens gehen - Umdenken und umsteuern - Einfach dankbar sein - Barmherzigkeit üben - Zu sich selber kommen - Staunend leben. Also: das volle Programm der (Über-)Forderungen. Der überbordende Angebots- und Gebotskatalog. Wider den Makro-Egoismus und die Stressproduktion westlichen Zuschnitts. Offenes Prediger-Pathos. Gewissheit inmitten so vieler Brüchigkeiten: Wir werden nicht mehr viel vor uns haben, wenn wir nicht endlich etwas Neues vorhaben mit uns. Schorlemmer erinnert an den Pseudosozialismus, wo die »Utopie der Säuberungen« das Leben zurechtstutzte wie für ein Prokrustesbett, denkt an die DDR, wo Barmherzigkeit als kleinbürgerlich galt, erzählt von der »Giftküche Bitterfeld«, schlägt einen Bogen von damaliger christlicher, also ungelittener Friedensarbeit zu heute: unerledigte Aufgaben.

Lesend stecke ich im Überschwang eines so drängend lebensbesorgten wie schwelgend lebensbegeisterten Reflektierens. Die ökologischen Fakten, die der Autor anführt, stellen unerbittlich Warnschilder auf. Das freilich rauscht an mir vorbei, und ich erschrecke über mich. Aber ohne intensive Elastizitätsübung verdaut inzwischen kein Bewusstsein mehr das pausenlose Auf und Ab von Nachrichten, die eine Höchstaufmerksamkeit abfordern - um im nächsten Moment von neuen Reizwerten in die Unaktualität gestoßen zu werden. Im entfesselten Informationsrausch wurden wir zu Hochtrainierten einer schützenden Gleichgültigkeit. In solcher Lage spricht dieser Text von »Einübung«: Mach dich nicht kleiner, als dir gut tut; überwirf dich mit deinen Unterwerfungen. Leb so, dass man sieht und spürt: Dieser doch nie zu tilgende Unterschied zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit ist dir nicht egal.

Es gibt eine Metaphysik des Mitmachens, vom Neoliberalismus in Gang gesetzt. Auf diese Weise festigte sich unsere leidige, nahezu alttestamentarische Grundausstattung: Jeder tut dem anderen alles an, was er ihm, ohne dafür bezahlen zu müssen, antun kann. Dagegen setzt der Autor den Mut, Solidarität nicht länger als »Verliererparole« zu sehen, sondern als Hauptgegenstand der Selbsterziehung. Aber es bleibt schwer, jeden Tag Kapitalismus so zu leben, dass wir unser Bewusstsein dabei resistent halten. Diese dauerhafte Gewissenszwickmühle: Frei sein - von etwas? Oder sich frei entscheiden - für etwas? Sich freistellen oder sich einsetzen. »In dieser Spannung leben Christen: zwischen Einschärfung und Einladung.«

In dieser Spannung leben wir alle. Hingabe oder weggehen. Alles lassen oder sich einlassen. Und worauf? »Wo bleiben? Wie ist die Landschaft, in der wir kämpfen. Ein zerklüfteter, verwinkelter Platz für die Allgemeinheit, weichgezeichnet von den Medien ... Die zentrale Kategorie: die Handlungsfähigkeit, der Whirlpool, in dem Oben und Unten sitzt, die nackten Interessen« (Volker Braun). Freilich ist zu befürchten: Die Sinnbedürfnisse vieler Menschen werden sich auf geraume Zeit kaum mehr mit Verheißungen des Utopischen stillen lassen. Denn das Versprechen, das jede Utopie ihrem Begriff nach enthält, müsste von einem optimistischen Generalimpuls getragen sein, wie er die Epoche seit der Aufklärung charakterisierte. Dieser Glaube aber ist nach dem Jahrhundert der Zwangsstaaten bis zum Rest aufgebraucht.

Zwischen diesem Glauben und der Gegenwart liegen die Tragödien der Moderne. Und schwer ist der Weg vom Wohlsein zum Wohltun; mühselig bleibt diese wahre soziale Fortbewegung vom Wohl-Stand zu einer Wohl-Fahrt, die mehr ist als Caritas. Weil wir uns nicht ändern werden, müssen wir also eine so gelassene wie exakt vorgehende Praxis des Ethischen entwickeln, welche die große Katastrophe verhindert, ohne an die Grundsubstanz des menschlichen Irrstrebens gehen zu wollen. Technischer Vorstoß und Schutz zugleich. Grenzdurchbruch und Zügelung der Befugnisse in einem. Technologische Furchtlosigkeit plus - christliche Demut.

Demut ist Dankbarkeit. Das Buch preist in je eigenen Kapiteln Sonne und Erde, Wasser und Luft. Staunen ist für Schorlemmer ein spiritueller Glanz überm Grau. Ist geistiger Wärmestrom gegen die praktische Raserei der konkurrierenden Zwecke. Der Theologe bekräftigt, »dass selbst das Schwere leichter ertragen wird, wenn man das dankbar annimmt, was das Leben im Individuellen, im Sozialen und im Politischen trotz allem bereithält.« Du liest und kapitulierst manchmal vor der Güte dieses Essayisten, vor dieser Feindlosigkeit inmitten unmissverständlicher An- und Einklagen. Ein Yoga der Besinnung, dass du dir ganz starr vorkommst in deinen täglichen Verrenkungen. So sehr viel Richtiges, Ausgewogenes, Unbestreitbares, Ausgleichendes - du glaubst plötzlich viel mehr, als du denkst. Schön! Denn Unauszählbares muss schwirren, bevor der Akt des Erkennens einsetzt. Natürlich ist auch Glaube ein System. So wie es öffnet, so sichert es ab. Vier Wände, ein Boden, eine Decke. Ein Zimmer also. Ein Haus. Manche sagen Kirche dazu. Der Eindruck von Sicherheit freilich täuscht - aber ohne solche Täuschungen fielen wir durch. Wohin wir da fielen, dafür ist jeder Name noch zu schön. »Glaube ist keine Versicherung gegen die Angst, sondern ein Bestehen in der Angst. Jeder hüte sich davor, sich ohne jede Willensanstrengung auf eine Mutlosigkeit herauszureden, die einfach nur Feigheit ist.« Täusche sich niemand in Schorlemmer: Er ist ein Kämpfer. Unverhohlen. Bauarbeiter an Sollbruchstellen zwischen Hütten und Palästen.

Wir haben die schöne Welt nie gesehen, der wir verfallen sind. Jeder Lust geht eine Blendung voraus. Als sei die Wand, an der wir entlangleben, der weite Horizont. Mit dem Kopf kommen wir nicht durch die Wand, aber die Wand geht durch unseren Kopf, und wir können sie bemalen. Gemälde, Gedichte, Geschichten, Gleichnisse, Gebete. Die uns hoffen lassen, wir könnten an dünnen Seelenstellen - wenn es darauf ankommt - etwas zerreißfester werden. So ist das auch mit diesem Brief Schorlemmers an einen Bruder in Rom.

Friedrich Schorlemmer: Unsere Erde ist zu retten. Haltungen, die wir jetzt brauchen. Herder Verlag Freiburg im Breisgau. 157 S., geb., 14,99 €.

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