Mord und Totschlag am Lake Michigan

Chicago erlebt eine dramatische Welle der Gewalt

  • Martin Bialecki, Chicago
  • Lesedauer: 4 Min.

Mehr als 500. In Chicago sind bereits jetzt mehr Menschen getötet worden als im gesamten Vorjahr. In der drittgrößten Stadt der USA wurden 2016 mehr Menschen ermordet als in New York und Los Angeles zusammen, den beiden viel größeren Metropolen. Der Gewaltausbruch stellt für Chicago einen Höchststand in fast zwei Jahrzehnten dar, fand die »Chicago Tribune« weiter heraus. Jede Woche zählt die Polizei der Stadt 82 »Shootings«, Vorfälle mit Schusswaffen.

Die »Chicago Tribune« erfasst in einem ebenso großartigen wie traurigen Projekt jeden Zwischenfall, jedes Shooting, analysiert die Gewalt nüchtern und glänzend aufbereitet. Die Macher zeigen, dass einige Viertel der Stadt den gefährlichsten Orten der Welt nahekommen: Favelas in Brasilien oder Vorstädten in Venezuela.

Die Millionenstadt Chicago

Einst war Chicago bekannt als Zentrale von Al Capone. Zur Zeit der Prohibition von 1925 bis 1931 beherrschte der Gangster das organisierte Verbrechen in der Stadt. Heute ist die bedeutende Industrie- und Handelsmetropole mit rund 2,7 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der Vereinigten Staaten - und ächzt unter sozialen Problemen.

Die Metropole im US-Bundesstaat Illinois gilt als eine der am stärksten nach Hautfarben getrennten Städte in den USA. Zwar sind rund ein Drittel der Chicagoer schwarz, 45 Prozent weiß und 30 Prozent Hispanics – die Stadt ist also gemischt. In den Armenvierteln im Süden wohnen allerdings zu mehr als 90 Prozent Schwarze, der reiche Norden ist überwiegend von Weißen bewohnt. Das Einkommen in den schwarzen Vierteln sank seit dem Jahr 2000, in den Stadtteilen mit weißer Mehrheit hingegen stieg es.

US-Präsident Barack Obama lebte mehr als 20 Jahre lang in der »Windy City«. In den Armenvierteln im Süden der Stadt setzte er sich als »community organizer« für Benachteiligte ein. Auch heute noch gäbe es viel für ihn zu tun: Zweimal am Tag geschieht auf den Straßen der Stadt ein Mord. Fast ein Jahrhundert nach der Prohibition ist Chicago damit wieder ein Synonym für Kriminalität. dpa/nd

Dabei schien es eine Zeit lang, als bekomme man Mord und Totschlag am Lake Michigan ganz gut in den Griff. Bis 2014 sah es so aus, als könne Chicago den Städten Los Angeles und New York auf ihrem Weg allseits akzeptierten, abgesicherten Friedens folgen. Doch dann schnellten die Zahlen hoch: Die Stadt mit ihren 2,7 Millionen Einwohnern zählte 2015 rund 62 Prozent mehr Mordfälle als im Jahr zuvor. Warum?

Grund eins: die Waffen

Vergleicht man die Zahl der Todesfälle in New York und Chicago ohne Waffengewalt, liegen beide Städte etwa gleich auf. Zählt man die mit Waffen hinzu, geht Chicagos Totenzahl durch die Decke. 2010 änderte sich die Gesetzgebung für privaten Waffenbesitz. 2014 endete das Verkaufsverbot an Privatleute.

Erschwerend kommt dazu, dass Menschen aus Chicago sehr leicht an Waffen aus dem nahen Indiana kommen, fand die »New York Times« in einer umfangreichen Analyse heraus. Die »Gun Shows« dort sind nur eine Stunde entfernt. Registrierungen privater Käufe? Nein. Sogenannte Background-Checks seitens der Behörden? Nein. Das macht den Waffenkauf etwa so kompliziert wie den Erwerb von Milch.

Jens Ludwig ist Direktor des Crime Lab an der University of Chicago, das Verbrechen in Chicago und New York analysiert. Ein Ergebnis: »Die Polizei von Chicago kann nur auf die schlimmsten Probleme reagieren.« Die Bürger fühlten sich darum für ihre Sicherheit selbst verantwortlich. »Die Leute tragen Waffen, weil andere Leute Waffen tragen. Es ist ein sprichwörtlicher Rüstungswettlauf. Ein absoluter Teufelskreis.«

6000 illegale Waffen stellte die Polizei 2016 in Chicago bereits sicher. Offensichtlich nicht genug, um die Gewalt einzudämmen. New York habe als Reaktion auf das Verbrechen sehr viel dadurch bewirkt, dass eine ganze Menge mehr Polizisten eingestellt wurden, sagt Ludwig. Angeblich plant Chicagos Bürgermeister Rahm Emanuel ähnliches, für Dienstag hatte er eine Rede zur öffentlichen Sicherheit angekündigt.

Grund zwei: die Gangs

Mit vermeintlicher Al-Capone-Romantik und Männern mit schicken Hüten hat das Milieu nichts zu tun. Der Kriminologe Arthur Lurigio von der Uni Chicago sagt, früher große Gangs seien inzwischen zersplittert. Sie stritten sich weniger über Geld oder Gebiete, dafür mehr über Persönliches und Beleidigungen. »Soziale Medien sind dafür ein Brandbeschleuniger.« Oft fange es friedlich an, dann gebe ein Wort das andere, werde schließlich als Drohung aufgefasst - und jemand greife zur Waffe.

Gangexperte John Hagedorn von der University of Illinois erklärt in der »Times«: Zwar seien sehr viele Hispanics in Gangs organisiert, aber drei Viertel aller Bandenkonflikte in Chicago geschähen unter Schwarzen. Unter diesen wiederum werde die Gewalt spontaner, affektiver, werde sozusagen die Lunte immer kürzer.

Grund drei: die Armut

Wie New York hat auch Chicago eine vielfältige Bevölkerung: Weiße, Schwarze, Hispanics, der Bogen der Einkommen spannt sich zwischen null Dollar und unfassbarem Reichtum. Viele sagen, die Zustände an Chicagos South und West Side seien der eigentliche Grund für die Gewalt. »Man kann die Herkunft der Gangs und ihre Gewalt nicht trennen von der Armut extrem segregierter Nachbarschaften«, schreibt der Harvardprofessor Robert Sampson in einem Buch über Viertel amerikanischer Großstädte. »Hochkonzentrierte Armut Schwarzer erzeugt Gewalt Schwarzer.« Auf einer Gedenkveranstaltung sagte Pastor Ira Acree: »Die beste Möglichkeit, eine Patrone aufzuhalten, ist ein Job.« Nur: Für Schwarze in Chicago herrschen die gleichen miserablen Bedingungen bei Ausbildung und Arbeitsmarkt wie für Nicht-Weiße in weiten Teilen des Landes generell.

Polizeichef Eddie Johnson sagte kürzlich vor Medien: »Das ist keine Polizeiangelegenheit, sondern eine der Gesellschaft. Zeigen Sie mir einen Mann ohne Hoffnung, und ich zeige Ihnen jemanden, der eine Waffe in die Hand nehmen und etwas damit anstellen wird.«

Grund vier: Spannungen mit der Polizei

Zu den Problemen der hiesigen Polizei gehört institutioneller Rassismus - das hält ein unabhängiger, interner Bericht kühl fest. Zitat: »Wenn es um farbige Menschen geht, ist der Polizei die Unversehrtheit des Lebens oft egal.«

In diesem Jahr eskalierte die Lage, als das Video von Laquan McDonalds Tod veröffentlicht wurde. Er wurde 2014 auf der Straße erschossen: weiße Polizisten, ein unbewaffneter Schwarzer knickt nach vorne weg. dpa/nd

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