Das große Rätsel

Kapitalismus nach der Krise: Wo ist das Wachstum abgeblieben? Von Hermannus Pfeiffer

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 9 Min.

Jeff Bezos arbeitet an der Verwirklichung seines Traums: Eines Konzerns, der keine Grenzen kennt. Amazon ist ein Unternehmen im Zustand permanenter Revolution, weit über die Logistikbranche hinaus. Die Grundlagen für das Streben nach Größe und Macht sind der Wille, alles immer neu zu denken, und zwar immer vom Kunden aus, eine simple Wachstumsformel - und ein Chef, der mit den bekannten Benimmregeln des modernen Managements bricht.

Solche Titelgeschichten mögen wirtschaftsliberale Medien, in diesem Fall die »Wirtschaftswoche«. Allmachts-Wachstumsphantasien mögen Bezos und Kollegen träumen. Wirklichkeit dürften sie selbst für Amazon, Apple oder Volkswagen nicht werden. Konzerne mögen steigen oder sinken. Der Kapitalismus bleibt. Doch dieser schlägt sich seit einiger Zeit mit einem Problem herum, das den Kern seines Wohlstandsversprechens aufzehrt: ewiges Wachstum.

Die kapitalistische Wirtschaft wächst nicht mehr so schnell wie man es lange gewohnt war. Ökonomen, Politiker und Manager in den Vereinigten Staaten waren sich noch 2008 einig, dass nach der Rezession schnell eine Phase kräftigen Wachstums folgen würde. Sie blieb aus.

Mehr Menschen, mehr Bedarf

So war Amerikas größte Volkswirtschaft in den sechziger und neunziger Jahren nach Rezessionen jeweils inflationsbereinigt um mehr als vier Prozent im Jahr gewachsen. Welch ein Unterschied zu heute: Seit 2009 verzeichnen die Wirtschaftsforscher gerade ein jährliches Plus von zwei Prozent. Das erscheint für europäische Verhältnisse immer noch viel, doch muss die andere demografische Entwicklung in Rechnung gestellt werden. Amerikas Bevölkerung und das Arbeitskräfteangebot wachsen. Ein Wirtschaftswachstum von zwei Prozent ergibt sich also quasi natürlich, entspricht in etwa einer stagnierenden Wirtschaft in den meisten EU-Staaten.

Entsprechend zurückhaltend agiert die Notenbank Fed. Mit Blick auf den sogenannten Arbeitsmarkt und die hohe Erwerbslosenquote weicht sie einer Zinswende mit deutlich steigenden Leitzinsen aus. Warum die US-Wirtschaft nicht wieder anspringt, gilt als »das große Rätsel«.

So bringen es die Ökonomen des Hoover-Instituts begrifflich auf den Punkt. Alte Gewissheiten gehen über Bord. Selbst im achten Jahre nach Krisenausbruch haben ganze Volkswirtschaften beispielsweise in Europa und besonders globalisierte Branchen wie die maritime Wirtschaft noch immer nicht wieder das Vorkrisenniveau erreicht. Der Welthandel verlor seine Dynamik.

Klassische Interpretationen von Keynesianern und Monetaristen wie Deflation und Ölpreis, Nachfrageschwäche oder wahlweise Angebotsschwäche aufgrund struktureller Mängel mögen aktuell zutreffen und Probleme in Washington, Athen oder Singapur verstärken. Doch die neuartige Wachstumsschwäche des real existierenden Kapitalismus hatte sich bereits vor der großen Krise, die 2007 durch das Platzen einer Immobilienblase in den USA ausbrach, gezeigt.

In den sechziger Jahren war die Weltwirtschaft real um durchschnittlich rund 5,5 Prozent im Jahr gewachsen. In den Siebzigern betrug das Wachstum immer noch fast vier Prozent, in den Achtzigern dann nur noch rund drei Prozent. In den Neunzigern und im ersten Jahrzehnt nach dem Millennium stand dann lediglich eine Zwei vor dem Komma. Im laufenden Jahrzehnt sprechen die Zahlen für eine weitere Verlangsamung.

Diese Darstellung basiert auf den Daten der Weltbank. Internationale Institutionen wie IWF oder OECD melden andere Zahlen für einzelne Jahre oder Zeiträume: Aber auch hier zeigt der Trend für das Wirtschaftswachstum nach unten. Dieser Trend kann sogar in »Wirtschaftswunderländern« mit prosperierender Volkswirtschaft wie Deutschland sowie jüngst in China beobachtet werden.

Was sich zunächst als ein mathematisches Phänomen der großen Zahl verharmlosen ließe: Je größer eine Volkswirtschaft wird, desto mehr muss sie wachsen, um ein Prozent Wachstum zu erzielen.

Aber eine solche Sicht ist insofern verharmlosend, als sich die Entwicklung der Bevölkerung, menschliche Bedürfnisse oder Umweltverschmutzung nicht um solche Arithmetik scheren. Sie wachsen. Und zwar in erheblichem Umfang. In den meisten Ländern wird das Wirtschaftswachstum im Wortsinne von einer zunehmenden Zahl von Menschen verzehrt.

Der ganz normale Kapitalismus

Wenn wir nach den Gründen für die Abflachung der Wachstumskurve fragen, lohnt sich zunächst ein Blick zurück. Die historische Erzählung, der viele besonders in Deutschland anhängen, ist vom »Wirtschaftswunder« im Nachkriegsdeutschland geprägt. In Westdeutschland stieg die Wirtschaftsleistung in der Spitze um über acht Prozent. Ähnlich rasant wuchs die DDR-Ökonomie.

Ohne die Leistung der Beteiligten und die Bedeutung der Blockkonfrontation schmälern zu wollen, profitierte man hier faktisch wie numerisch von einer Nachkriegskonjunktur. Solche Sonderfälle ließen sich auch zu anderen Zeiten und in anderen Ländern beobachten.

Doch hohe Wachstumsraten können eher als Ausnahmen denn als Regelfall angenommen werden. Selbst die Ära der Gründerzeit und das Fin de Siècle brachten im Schnitt laut Welthandelsorganisation WTO im Zeitraum 1850 bis 1913 ein reales Wachstum von lediglich 2,1 Prozent hervor. Auch andere Quellen, wie der deutsche Statistiker Ernst Lüdemann in seiner Übersicht »Die Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert«, zeigen für die Welt, für Europa und Deutschland den gleichen Trend.

Insofern darf die heutige relative Wachstumsschwäche als Normalisierung angesehen werden. Eine Normalisierung sind daher auch die sozialen Folgen, an denen sich Oliver Nachtwey in seinem neuen Buch »Abstiegsgesellschaft« abarbeitet.

Die historische Wende

Wachstum entsteht durch den erhöhten Einsatz von Menschen und Maschinen. Das ist der quantitative Ansatz, quasi die Tonnenideologie, die lange den Sozialismus prägte. Dieses »extensive« Wachstum durch größeren Faktoreinsatz stößt an natürliche Grenzen.

Extensives Wachstum spielt vor allem bei der nachholenden Modernisierung von Entwicklungs- und Schwellenländern wie China oder Brasilien auch heute noch eine tragende Rolle. Jedoch sind demografische Entwicklungen ebenfalls in Industriestaaten wirksam, einerseits durch eine kleiner werdende Bevölkerung, anderseits durch vermehrte Berufstätigkeit von Frauen und Rentnern.

Dieser Aspekt wird häufig in der politischen und ökonomischen Diskussion zu gering geschätzt. Wie auch, dass der Auftrag von heute die Arbeit von morgen ist und der Auftrag von morgen die Arbeit von übermorgen. Die Basis für Wachstum ist keineswegs selbstverständlich oder trivial, wie Postmoderne annehmen. Zunächst einmal muss auch im kommenden Jahr die gleiche »Menge« erzeugt werden wie im Jahr zuvor. Durch »intensives« Wachstum - dieses ist typisch für weit fortgeschrittene Volkswirtschaften wie in den Vereinigten Staaten oder Europa. Der zentrale Faktor ist dann die Entwicklung der Produktivität: Bessere Maschinen und der effizientere Einsatz der Arbeitskräfte vermögen Wachstum zu erzeugen.

Doch auch die Produktivität erreicht nicht mehr die früheren Steigerungsraten. Zeitweise geht sie sogar, wie aktuell in den USA, zurück. Ausführlich wird der Zusammenhang von Technik und Produktivität im Beitrag »Computer sind keine Dampfmaschinen« geschildert (»nd« vom 19. Dezember 2015).

Inzwischen scheint sogar die Globalisierung selbst das Wachstum zu bremsen. Die historische Wende um 1990 mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus hatte dem Kapitalismus neue Ressourcen eröffnet. Inzwischen sind Osteuropa und China aber in den kapitalistischen Weltmarkt integriert. Die einst rasanten Wachstumskräfte normalisieren sich auch dort.

Zwar gibt es immer noch weiße Flecken auf der Erde, die man von null auf hundert beschleunigen könnte. So investieren europäische, chinesische und japanische Konzerne vermehrt in Afrika. Volkswagen will künftig Autos in Kenia produzieren. Doch das ist im globalen Maßstab Kleinklein.

Aufgeblähte Finanzmärkte

Das Thema Wachstum blieb auf der gerade beendeten Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik ein Randthema, obwohl sich in Augsburg viele Ökonomen für eine realitätsnähere Ausbildung aussprachen. Genannt wurden dann eher offensichtliche Probleme wie Ungleichheit oder die Folgen der Finanzkrise. Immerhin hatte der Wachstumsforscher Uwe Sunde von der Ludwig-Maximilians-Universität München im vergangenen Jahr den »Gossen-Preis« der Ökonomenvereinigung bekommen. Er gelangt in seinen Arbeiten zu dem Schluss, dass man sich wohl »global von den hohen Wachstumsraten verabschieden« müsse.

Für die Grenzen des Wachstums, wie sie in den 1970er Jahren schon einmal der Club of Rome formulierte, spricht seit der 2007 ausgebrochenen Finanzkrise die »säkulare Stagnation«, die der frühere US-amerikanische Finanzminister und Wirtschaftswissenschaftler Lawrence Summers ins Feld führte. Die Ursache der überraschend langsamen Erholung nach der Krise sehen Summers, der Internationale Währungsfonds und andere in einer Kombination aus steigendem Kapitalangebot und sinkender Investitionsneigung.

An sich ist dies eine Argumentation, die auch marxistisch orientierte und keynesianische Autoren in der einst von Jörg Huffschmid initiierten Euro Memo Group pflegen: Der wachsende private und institutionelle Reichtum wird nicht investiert, weil es an Anlagefeldern fehlt, die hinreichend profitabel erscheinen. Die Folge sind aufgeblähte Finanzmärkte. Wer den veröffentlichen Daten der Statistikämter und der kaum noch wirksamen Notenbanken vertraut, dürfte diesen Befund empirisch bestätigt finden.

Umstritten, aber durchaus plausibel ist, dass mit dem zunehmenden Kapitalstock der von Karl Marx erwartete »tendenzielle Fall der Profitrate« droht. Im Ergebnis müssen immer höhere Summen investiert werden, um den gleichen Gewinn zu erzielen. Auch für diese These gibt es empirische Befunde, etwa in den »World Investment Reports« der UNCTAD. Die Folge sind immer größere Konzerne. Aber nicht mehr Wachstum.

Ungleichheit bremst Wachstum

In den entwickelten Ländern ist es heute unmöglich, ähnlich hohe Wachstumsraten zu erzielen wie in der Vergangenheit. Darüber schreibt Robert Gordon am Beispiel der USA (»The Rise and Fall of American Growth«). Seine Kernthese: Die großen Innovationen und damit das große Wachstum seien vorbei.

Mobiltelefone und Internet mögen die Welt kulturell und sozial verändern. Das ökonomische Potenzial wie einst Dampfmaschinen, Chemie und Elektro, dann nach 1945 konsumtiv die Verbreitung des Automobils, elektrischer Geräte und die flächendeckende Gesundheitsversorgung haben die Modernen offensichtlich nicht: Ein neues Handy kostet ein paar Dollar, ein neuer Mittelklassewagen Abertausende.

Das Bild Amerikas, das der 1940 geborene US-Ökonom zeichnet, trifft ebenso auf die Europäische Union, Australien und Südafrika zu.

Nun mögen Trends wie die Verlangsamung des Wachstums bis hin zur dauernden Stagnation in Japan nicht einem ehernen Gesetz entspringen. Dennoch wird der Abschied von hohen Wachstumsraten auch künftig kaum aus freien Stücken erfolgen, wie ihn Teile der grün-alternativen, postwachstums-orientierten Ökonomenzunft fordern. Die übergroße Zahl der Menschen braucht aus existenziellen Gründen Wachstum. Das im neuen Bericht an den Club of Rome von Jorgen Randers und Graeme Maxton postulierte »Ein Prozent ist genug« ist eben nicht genug. Gordons lebenskluge Diagnose ist gar nicht weit weg vom Meisterwerk des Briten Anthony Atkinson »Ungleichheit«, vom französischen Medienstar Thomas Piketty und den Arbeiten des kürzlich verstorbenen Herbert Schui. »Man sieht, Kapitalismus und Markt versorgen den zahlungskräftigen Nachfrager mit dem, was er sich aneignen möchte - aber was, wenn jenseits des Marktes Bedarf besteht?«, fragte Schui schon in seinen Buch »Ökonomische Grundprobleme«.

Gordon zeigt Ansatzpunkte für eine Politik, die erfolgreich gegensteuern will. Als kernigste Bremsfaktoren der wirtschaftlichen Entwicklung macht er vier Faktoren aus: Die Alterung, den enger werden Spielraum der Staatsfinanzen, Bildungsdefizite in weiten Teilen der Bevölkerung und die extreme Ungleichheit. Alles Bremsen, die eine weitsichtige Politik lösen könnte. Ohne Amazon und Konsorten. Auf das nominelle Wachstum kommt es dann allerdings gar nicht mehr an.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.