Sinn als Immunsystem
Wilhelm Schmid war »Philosophischer Seelsorger« im Krankenhaus. Von Irmtraud Gutschke
Eigentlich täte solch ein »Philosophischer Seelsorger« jeder Klinik, jedem Altenheim, ja sogar jedem Unternehmen gut: einer, der ohne Zeitdruck zuhört, der Rat gibt, der Gesprächsrunden führt und hilft, im Miteinander Konflikte zu bewältigen. Dafür seien Psychologen da? Auch im Krankenhaus in Affoldern, südwestlich von Zürich, wo man es sich leistete, Wilhelm Schmid über zehn Jahre in Abständen zu beschäftigen, gibt es natürlich einen Bereich Psychotherapie. In diesem Fall spezialisiert auf Kunst und Gestaltung - Ausdrucksorientierung, was den Vorteil hat, niemanden durch ein allzu dominantes »Psycho« abzuschrecken.
Mehrere Seiten im Buch gelten den Gesprächen mit den dort beschäftigten Therapeuten, die wohl nicht gleich einsahen, warum es noch andere »Seelsorger« braucht. Sie sind für bestimmte Beschwerden da, folgen Therapiekonzepten. Wilhelm Schmid bewegte sich von vornherein viel freier - ein »freier Philosoph«, so bezeichnet ihn der Klappentext.
Auch ist der Professor mit seinen 63 Jahren für jeden erkennbar ein lebenserfahrener Mann, verkörpert nicht nur funktionale, sondern auch persönliche Autorität. Zudem war er eine Instanz von außen, einer, der irgendwann wieder weg ist. Das ist ein Vorteil: »Die Anwesenheit des Anderen, der eigentlich nicht dazugehört, aber toleriert wird, fordert dazu heraus, über sich selbst nachzudenken.«
»Philosophischer Seelsorger« - da dachte die Klinikleitung wohl zuerst an Patienten, die nicht kirchlich gebunden sind und trotzdem Beistand brauchen. Im Buch ist viel über Gespräche mit kranken, leidenden Menschen zu lesen, darüber, wie Schmid ihnen Mut machen konnte. Dass auch Ärzte und Pflegende ihn brauchen würden, hat er erwartet und ist auf sie zugegangen. In verschiedenen Bereichen des Hauses hat er mitgearbeitet, sich aber gehütet, etwas umkrempeln zu wollen, wie Unternehmensberater es tun. Dabei wusste er Veränderungswillen zu ermutigen. Selber frei, setzt er auch bei anderen Freiheit voraus. Denn: »Der Eigensinn der Einzelnen beeinflusst die Verhältnisse im Allgemeinen, auch wenn die Individuen selbst diesen Impuls für völlig unbedeutend halten mögen.« So einer jener klugen Sätze, von denen es im Buch viele gibt.
Durchaus wissend, welche Mühe es macht: Ein Register wäre gut gewesen. Man liest das Buch und findet es auf jeder Seite anregend. Hinterher würde man sich wünschen, einige Gedanken noch einmal nachzuschlagen und für sich selbst zu ordnen. Da hat es zum Beispiel treffende Bemerkungen darüber gegeben, wie durch eine Krankheit geistige Bewegung möglich wird, welche Herausforderungen für den Menschen in Übergängen liegen, dass es »asketische Brücken« braucht (Askese heißt eben nicht einfach nur Enthaltsamkeit), welche Rolle Gewohnheiten spielen (»Gewohnheit ist Wohnung«), dass nicht nur das Loslassen, sondern auch das Festhalten von Wert ist, wie wir Angst, wie wir Sehnsucht und Sucht verstehen können, was beim Lesen geschieht und worin die Macht der Liebe besteht.
Wilhelm Schmid wird seine Gesprächspartner immer wieder durch die Genauigkeit seiner Formulierungen beeindruckt haben. Denn wozu braucht man einen Philosophen? Auf diese Frage muss er häufig antworten. »Ich sage, dass es doch wohl jemanden geben müsse, der das Leben genauer betrachtet, um es besser zu verstehen, jemanden, der auch größere Zusammenhänge über den Alltag hinaus im Blick behält, um alle Lebensgebiete zu erfassen.«
Wichtig dabei: die Sprache. Begriffe sind ja nicht bloß Worte, sondern gefühlte und gedachte Inhalte, das will erarbeitet sein. Auch sind Begriffe »nicht so harmlos, wie sie zu sein scheinen, sie geben keineswegs nur eine Realität wieder, sondern können eine solche auch vortäuschen. Sie können irritieren und krank machen, aber auch klarsehen und gesunden lassen, je nach ihrer Definition.«
Hier kommt das gesellschaftliche Umfeld ins Spiel. Wilhelm Schmid nennt es »Moderne« und hat, wie heute weitgehend üblich, weniger die Basis sozialökonomischer Verhältnisse im Blick als den geistigen Überbau. »In der modernen Zeit stellen Menschen Ansprüche und richten Erwartungen an das Leben, die kaum noch zu steigern sind: Immer intensiv, spektakulär, strahlend, kaum je langweilig, niemals alltäglich soll es sein … nie soll es irgendwelche Verpflichtungen geben, materielle Schwierigkeiten sowie Krankheiten und Behinderungen aller Art sollen endgültig überwunden sein.«
Solch ein »Leitbild völliger Leidfreiheit« generiert indes selbst viel Leid, »denn selbst kleinere körperliche und seelische Gebrechen werden von nun an als etwas erfahren, das unter keinen Umständen zu akzeptieren ist«. Wohlfühlglück als Lebensziel hat seine Kehrseite in gesteigertem Unglücksempfinden, ja bereits in den Ängsten davor, dass es irgendwann zu etwas kommen könnte, dem man nicht gewachsen wäre.
Als »Lebenskünstler« bezeichnet man gemeinhin Leute, die aus jeder Situation das Beste zu machen verstehen. »Lebenskunst«: ein Balanceakt zwischen Gegensätzlichkeiten. Von der »Polarität des Lebens« spricht Wilhelm Schmid gern. »Wie wäre es, das Leben in dieser Spannweite atmen zu lassen?«, fragt er. Ein einleuchtendes, ein tröstendes Bild: »Mit dem Leben zu atmen.« Die Kunst wäre dann, ein »Glück der Fülle« zu genießen, wo man es früher vielleicht nicht vermutet hätte, sich »Selbstaufmerksamkeit« zu schenken, sich Form zu geben, sich immer wieder Fragen zu stellen und zu einer »Selbstmächtigkeit« zu gelangen, die sich in erster Linie nach innen richtet und zur Grundlage einer »Selbstfreundschaft« wird.
Mit sich »im Reinen« sein als Weg, den jeder für sich gehen muss. Kraft schöpft sich aus Lebenssinn, der heutzutage allerdings kaum mehr von außen vorgegeben wird. Wie man sich Sinn erarbeiten kann, darum geht es immer wieder bei den philosophischen Gesprächen im Krankenhaus. »Alles hat Sinn, was sich erzählen lässt, daher die große Liebe von Menschen zu Geschichten.«
Einwenden ließe sich da, dass es auch literarische Texte gibt, in denen Gefühle der Sinnlosigkeit kunstvollen Ausdruck finden - als Kritik an illusionären Sinnmodellen, die Menschen in der Öffentlichkeit vorgegaukelt werden, als Gesellschaftskritik also. Ideologische Vorgaben, die zu bestimmten Zwecken einigen sollen, werden unterlaufen, vermeintliche Autoritäten werden brüskiert.
Aber ist das, was da einst Gesellschaftskritik war, nicht heute oft nur pubertäres Gehabe? Vieles davon ist doch schon längst nicht mehr subversiv, sondern eingemeindet in eine Gesellschaft, in der freie Meinungsäußerung zum grenzenlosen Palavern wurde, eine Spielwiese des Narzissmus, wo Wahrheiten und Werte so lange relativiert werden, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt.
Nicht zum ersten Mal verwendet Wilhelm Schmid in diesem Buch den Begriff einer »anderen Moderne«, womit er idealerweise eine gesellschaftliche Veränderung meint, auf persönlichen Wegen die Wirren des Spätkapitalismus hinter sich zu lassen. Diese »andere Moderne« bedarf »der Arbeit am Sinn, zu leisten von den Individuen selbst, die nicht mehr auf ein überkommenes Sinnsystem zurückgreifen können oder wollen«. Es ist ihm Recht zu geben: Das findet auch bereits statt. Ein Umdenken auf vielen Gebieten, bei dem junge Menschen für ältere ein Vorbild sein können. Indes: Dass keine Eier von Hühnern mehr verkauft werden, die in Käfigen gehalten wurden, ist sicher ein gesellschaftlicher Fortschritt. Aber wenn sich gleichzeitig der Waffenexport erhöht …?
»Der Sinn wirkt wie ein umfassendes mentales Immunsystem, das einem Menschen erlaubt, Herausforderungen und Bedrohungen aller Art zu parieren«, schreibt Wilhelm Schmid. Eine ebenso stärkende Funktion misst er der Berührung bei. »Die Berührung mittels Tastsinn ist von klein auf und vermutlich das ganze Leben hindurch am Aufbau und an der Aufrechterhaltung des Immunsystems beteiligt.«
Drei Ausrufezeichen hinter diesen Satz. Massagen - da rümpfen viele Gesundheitsexperten die Nasen. Bloß Wellness sei das! Sporttherapie sei viel wirksamer bei Rückenschmerzen. Wenn körperliche Bewegung seelische Verspannungen löst, mag das so sein. Aber es gibt eine Energieübertragung von Mensch zu Mensch, die durch nichts zu ersetzen ist. Die heutige Medizin krankt daran, dass sie den Menschen mit seinen Beschwerden und Bedürfnissen nicht als Ganzes sieht. Kommt jemand in die Kardiologie, wird man dort womöglich den Hautkrebs gar nicht bemerken, geschweige denn, dass er behandelt wird. Kehrseite der Spezialisierung? Es liegt nicht nur in der Struktur, es ist auch Desinteresse. Massenweise werden Medikamente verschrieben, so dass schon die Nebenwirkungen krank machen, doch es fehlt an menschlicher Zuwendung. Heilen in umfassenden Sinne: Fehlt es an Ressourcen dafür?
»Die evidenzbasierte Medizin«, so bringt es Wilhelm Schmid in einen Satz, »ist für einige Evidenzen blind.« Und auch diese Aussage ist nicht neu: »Von allen Patienten wird es als wohltuende Menschlichkeit empfunden, als Subjekte mit ihren Eigenheiten gesehen zu werden, statt nur Objekte eines maschinellen Ablaufs und Träger krankhafter Symptome zu sein.«
Noch sind wir nicht über eine mechanistische Vorstellung vom Menschen hinaus, noch herrscht Geringschätzung gegenüber seinen metaphysischen, transzendenten Dimensionen. Noch ist es eine Sache des Glaubens - Wilhelm Schmid bekennt sich dazu -, dass »alles Einzelne in ein umfassendes Ganzes eingebettet ist« und dass daraus Erfahrungen von großer Intensität entstehen können.
»Die Intensität der Energie, die dabei erlebt wird, gibt der Vermutung Nahrung, dass sie das Wesentliche sein könnte, das über das Selbst und alle Zeit und Endlichkeit weit hinausreicht - eine Energie, die keine Grenzen kennt, mutmaßlich den gesamten Kosmos erfüllt und alles, was ist und lebt, beseelt.«
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