»Die Barons sind der Sozialhilfe-Adel«

Was soziale Herkunft, Horrorfilme und Bildungschancen miteinander zu tun haben? Unser Autor hat es erlebt

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 9 Min.
Unser Gemeinwesen ist von einer Gesellschaft der Versprechen zu einer Gesellschaft der Drohungen geworden. Ein Erfahrungsbericht.

Als ich ein kleiner Junge war, durfte ich Horrorfilme sehen. Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, holte mein Vater meinen Bruder und mich aus dem Bett und setzte sich mit uns vor den Fernseher, wo uns Verfilmungen von Stephen-King-Romanen das Fürchten lehrten. Der irre Clown in »Es«, die grausamen Untoten aus »Friedhof der Kuscheltiere« oder die Geisteskranke in »Misery« ängstigten mich, wie wohl jedes Kind, das solche Bilder sieht.

Da ließe sich natürlich fragen: Wie kann ein Vater so etwas nur tun? Nun, auch wenn ich nach dem Abspann bisweilen schlecht oder gar nicht schlief, bin ich bis heute überzeugt: Diese Filmabende waren Momente, in denen sich mein Vater von seiner besten Seite zeigte. Ihn plagte nach turbulenten Alkoholabenden - das bestätigte mir Jahre später meine Tante - immer wieder ein schlechtes Gewissen. Er hatte dann das Bedürfnis, uns seine Zuneigung spüren zu lassen. Weil er zu offener Herzlichkeit nicht imstande war, teilte er stattdessen seine große Leidenschaft mit uns. Und die bestand eben nicht im Briefmarkensammeln oder dem Modelleisenbahnbau, sondern in Horrorfilmen.

Kurz nach meiner Einschulung verdonnerte ihn meine Mutter einmal dazu, meinen Bruder und mich von der Schule abzuholen. Auf dem Nachhauseweg begleitete uns mein damaliger bester Freund. Ihm hatte ich schon den ganzen Vormittag hindurch davon erzählt, dass ich am Vorabend den Trashfilm »Critters« hatte sehen dürfen, in dem es um kleine, scharfzahnige, besonders hässliche und ausnehmend blutrünstige Ungeheuer von einem fremden Planeten geht. Während ich gefühlt zum zehnten Mal die Handlung mit vollem Körpereinsatz nachspielte, dürfte mein Vater die ebenso beeindruckten wie neidischen Blicke meines Freundes genau registriert haben. Vermutlich sah er seitdem die Möglichkeit für meinen Bruder und mich, vor den Mitschülern zu glänzen, wenn wir noch mehr dieser für Kinder eigentlich nicht geeigneten Filme sehen würden.

Also durften wir uns immer öfter dem Grusel vor der Mattscheibe hingeben. Irgendwann gewöhnte ich mich an die fiktiven Mörder, Monster und Mumien. Sie waren Teil meines Alltags. Und gegenüber meinen Freunden in mannhafter Pose mit Horrorfilmwissen zu prahlen, hatte was für sich. Eine Maßnahme gab es, mit der sich mein Vater bei den regelmäßigen Standpauken meiner Mutter verteidigte: Wurden Szenen allzu brutal, mussten wir uns Augen und Ohren zuhalten, bis das Schlachten vorbei schien. Was er nicht wusste: Gerade dieses Wegsehen in entscheidenden Szenen war es, das mir schlaflose Nächte bereitete. Nicht vor dem Expliziten schauerte mir, sondern vor dem Offenen, dem Rätselhaften, dem Ungewissen, das Bilder vor meinen Augen produzierte, obwohl ich sie mir zuhielt.

Denn, so erfuhr ich viel später, nicht anders funktioniert sie nun mal, die verwegene Lust am Grauen: Der Zuschauer verliert für eine kurze Zeitspanne seine Identität. Er macht eine Grenzerfahrung, indem er sich bewusst dem Unbekannten aussetzt und dadurch infantil anmutende Ängste empfindet. Wären mir nicht von Kindesbeinen an die schauerlichsten Horrorfilme vorgeführt worden, ich würde dieses Genre heute wahrscheinlich als unkultiviert, reaktionär und stumpfsinnig ablehnen, wie es so viele linksliberale Akademiker tun. Sie verdammen Menschen wie meinen Vater, denen die materiellen Mittel ebenso fehlen wie das bürgerliche Wissen, wie sie ihren Kindern jene Anerkennung bescheren können, die ihnen aufgrund ihrer sozialen Herkunft im Vergleich zu anderen Kindern vorenthalten bleibt. Es ist das gleiche Prinzip, wie es Evelyn Roll in der »Süddeutschen Zeitung« anwendete, als sie vor Jahren in einer Seite-Drei-Reportage mit dem Titel »Der Hypochonder wacht auf« eine Frau dafür verachtete, dass sie ihren Kindern etwas Gutes tun wollte und ihnen Big Macs statt Rohkost servierte. Wem aus materiellen Gründen die Möglichkeit verwehrt bleibt, der Tochter ein Musikinstrument oder dem Sohn eine Skifreizeit zu schenken, der muss sich mit dem kleinen Glück des Alltags begnügen, das in einem spannend anmutenden Gruselfilmabend bestehen kann oder in einer harmlosen, kleinen, lächerlichen Sünde namens Sparmenü bei McDonald’s für 4,39 Euro.

Ein weiterer Aspekt kommt hinzu, den sich die studierten Linken oft nicht ausmalen können: Eine Gesellschaft, die Menschen von finanzieller und kultureller Teilhabe an ihrem unermesslichen Wohlstand systematisch ausschließt, darf sich nicht wundern, wenn diese Ausgeschlossenen im Übertreten bürgerlicher Wertvorstellungen ihr letztes Refugium widerständigen Verhaltens und damit eine Art letzter Restwürde zu finden hoffen.

Auch meinen Grundschullehrerinnen war mein Fernsehkonsum ein Dorn im Auge. In der zweiten Klasse sollten wir einmal ein Bild malen, das zeigt, was wir morgens vor der Schule zu Hause tun. Einige Kinder malten sich beim Zähneputzen, andere beim Frühstücken und wieder andere beim Packen ihrer Schulsachen. Als Einziger gab ich ein Bild ab, auf dem zwei Strichmännchen zu sehen waren, die nebeneinander auf einem notdürftig als Couch erkennbaren Möbelstück saßen. Beide waren einem Gerät zugewandt, das meine Lehrerin sofort als Fernseher identifizierte. Ich erinnere mich bis heute, wie ihr die Gesichtszüge beim Blick auf das Blatt entglitten. Natürlich konnte ich sie damals noch nicht deuten. Sie ging kommentarlos weiter. Darum hielt ich das morgendliche Glotzen weiter für selbstverständlich - bis meine Mutter mir nachmittags peinlich berührt erklärte, ich könne doch so etwas nicht in der Schule malen, weil die Lehrerin nicht wissen dürfe, dass ich mir frühmorgens gern die neuesten Episoden meiner Lieblingszeichentrickserien »Die Racoons« und »Die Schlümpfe« ansah.

Damals galt noch deutschlandweit das Sprengelprinzip, nach dem alle im Einzugsgebiet einer bestimmten Grundschule verpflichtet waren, ihre Kinder auf diese und keine andere erste Lehranstalt zu schicken. Dadurch waren mein Bruder und ich bei weitem nicht die einzigen Schüler aus ärmlichen Verhältnissen. Weil wir aber mit unserem alkoholkranken Vater, einer besonders bedenklichen Wohnsituation und später unserer krebskranken Mutter den Lehrerinnen als besondere Herausforderung galten, standen wir schon frühzeitig auch unter der Beobachtung des Jugendamtes, das mich und meine drei Geschwister nach dem Tod meiner Mutter am liebsten in vier verschiedene Kinderheime gesteckt hätte. Der bei den Behörden jahrelang für uns zuständige Mitarbeiter ließ gern despektierliche Sprüche gegen unsere Familie fallen. Sein berühmtester: »Die Barons sind der Sozialhilfe-Adel.«

Meine Grundschullehrerinnen dachten völlig anders. Dank ihrer pädagogischen Erfahrung mit »Problemkids« brachten sie das Einfühlungsvermögen, den Enthusiasmus und die Kompetenz auf, unsere Lebenssituation zu verstehen. Sie taten alles, damit mein Bruder und ich nicht den eliminierenden Mechanismen des Bildungssystems zum Opfer fielen. Sie durchschauten die Gesamtscheiße, ohne dass sie als Einzelne grundlegend etwas hätten verändern können. Im Unterschied zu so vielen Lehrern, die ich später erlebte, wandten sie wunderbare Erziehungs- und Unterrichtsmethoden an, die bei den schneller lernenden Schülern ebenso ankamen wie bei denen, die etwas mehr Zeit und Zuspruch brauchten.

Der Pädagoge John Hattie hat 50 000 Studien zu den Bedingungen des Lernens systematisiert und kommt zu einem eindeutigen Schluss: Lehrer haben unter allen Menschen im sozialen Umfeld eines Kindes den stärksten Effekt auf das schulische Lernen, vor allem die Grundschulpädagogen. Lehrer, so Hattie, müssen Schüler im Arbeitsalltag genug wertschätzen, ihnen ausreichend Feedback liefern und ihnen viel Vertrauen schenken, damit der Lernerfolg steigt.

In Deutschland aber sind viele Lehrer für diesen Beruf völlig ungeeignet, wie eine Studie der Goethe-Universität Frankfurt am Main belegt: 27 Prozent jüngerer Lehrerinnen und Lehrer sind mit dem Job überfordert. Die meisten von ihnen gestehen ein, dass sie diesen Beruf wegen der Arbeitsplatzsicherheit, der guten Vereinbarkeit von Familie und Job und der Heimatnähe der jeweiligen Universität gewählt haben. In Zeiten, in denen sich der Bildungswettbewerb massiv verschärft, weil objektiv trotz fortbestehender Klassenschranken immer mehr Schüler eines Jahrgangs zum Abitur gelangen, wirkt sich das besonders für jene negativ aus, die ohnehin mit Nachteilen ins Schulleben starten. Für Kinder aus einem nicht-akademischen und materiell armen Elternhaus ist der Erfolg in dem immer mehr zum Markt umgestalteten Bildungssystem so schwer erreichbar wie das Ziel für einen Hundertmeterläufer, der mit 20 Metern Rückstand und einer Eisenkugel am Bein ins Rennen starten muss.

Unser Gemeinwesen ist von einer Gesellschaft der Versprechen zu einer Gesellschaft der Drohungen geworden. Es gilt die Devise: Sei cool, entspannt und selbstbewusst, dann regelt sich schon alles irgendwie. Fahre aber stets die Ellbogen aus gegen die Anderen, denn immer mehr Menschen machen Abitur. Und: Beklage dich niemals! Denn wenn du dich im Konkurrenzkampf nicht durchsetzt, dann landest du schnell im Zwangsregime namens Hartz IV!

Die soziale Herkunft ist unter diesen verschärften innergenerationellen Konkurrenzbedingungen gerade bei der Ressource Bildung zu einem unlauteren Wettbewerbsvorteil geworden, den Mittelschichtseltern ihren Kindern gewähren können, um deren Berufskarrieren zu sichern. Am Ende der Grundschulzeit, wenn in den meisten Bundesländern noch immer die Empfehlungen der Lehrer für eine weiterführende Schule anstehen, wirkt dieser Startnachteil fort: Statistisch gesehen bekommt das Kind eines Arztes oder Juristen fünfmal öfter eine Gymnasialempfehlung als ein Facharbeiterkind. Schüler aus gebildeten Elternhäusern legen siebenmal häufiger das Abitur an einem Gymnasium ab als Arbeiterkinder.

Warum handeln Grundschullehrer so? Klar ist, dass selten ein böser Wille hinter den Entscheidungen steckt. Meist setzen Lehrer bei leistungsschwachen Kindern aus Akademikerhaushalten mehr Fördermöglichkeiten durch die Eltern voraus als bei Arbeiterkindern mit den gleichen Noten. Außerdem ist da eine kulturelle Kluft, die in einer Klassengesellschaft unüberwindbar ist: Wenn Unterschichtkinder zu Rabauken werden, dann machen Lehrer meist die Eltern dafür verantwortlich - die sie in Wahrheit aber gar nicht kennen, weil die Eltern aus Scham nie zu Elternabenden erscheinen. Ist ein Kind aus einem Akademikerhaushalt ähnlich verhaltensauffällig, dann spricht der Lehrer mal eben mit den Eltern, die er ohnehin jede Woche im Theater trifft und von denen er deshalb weiß, dass sie wohlgesittet sind, sich ihr Schützling also früher oder später in jedem Fall »wieder einkriegen« wird.

Je mehr ich mich mit meinem Bildungsaufstieg auseinandersetze, umso deutlicher wird: Wären mir nicht derart einfühlsame und ihr Handwerk beherrschende Grundschullehrerinnen vergönnt gewesen, mir wäre niemals eine Eignung für das Gymnasium attestiert worden. Für meinen Bruder hatten sie eine Realschule als angemessen betrachtet, mich wollten sie unbedingt in der höchsten Schulform sehen. Aufgrund meiner sozialen Herkunft aber wollte mich kein Gymnasium aufnehmen. An dieser Stelle schritten wieder meine Grundschullehrerinnen ein: Sie setzten sich dafür ein, dass mein Bruder und ich eine Integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe besuchen konnten. Der Weg zum Bildungserfolg war geebnet - zumindest für mich ...

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