Fern der Kondensmilchdosenwelt
Matthias Dell vermisst den Kriminalfilm hinter automatisch abfahrbaren Momenten
Och, Menno. Da weckte der neue Dresdner »Tatort« im März Hoffnungen auf eine Belebung der ARD-Sonntagabendkrimiszenerie, und dann sind die schon bei der zweiten Folge flöten. Der Auftakt war ja nicht nur interessant, weil ein MDR-»Tatort« sich über Volksmusik lustig machte – die Form der Unterhaltung, der der MDR seine tollen Quoten verdankt (die er, streng genommen, gar nicht braucht, weil Dritte Programme doch werbefrei sind und also auch keine Werbepreise berechnen müssen).
Nein, der Auftakt war vielversprechend, weil die Konstellation auf dem Revier eine Innovation für die Traditionskrimireihe bedeutete – zwei Kommissarinnen, denen es selbstverständlich ist, die Arbeit zu machen, die lange Zeit nur Männer vorbehalten war, und ein Vorgesetzter, der damit seine Probleme hat. Anders gesagt: die Ankunft von Konflikten, wie man sie heute in Büroarbeitswelten findet. Und die mitunter gar nicht so leicht artikulierbar sind, wie jüngst der Fall der Berliner CDU-Abgeordneten Jenna Behrends zeigte: Die wehrte sich öffentlich dagegen, als erwachsene Frau »Süße Maus« genannt zu werden, was ihr nicht nur Verständnis einbrachte, sondern den seit 2000 Jahren Patriarchat geläufigen Vorwurf, sich lediglich profilieren zu wollen. Denn zu den Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern gehören Onkels, die angeblich oder tatsächlich nicht wissen, wie ihnen geschieht.
Das Aushandeln von Macht, denn darum geht es bei so was wie Sexismus ja, mag im richtigen Leben anstrengend sein. Aber für die Kunst, für einen Film müsste genau es doch ein Vergnügen darstellen: das schwer Artikulierbare auszudrücken, auf dem Seil rumzuturnen, das sich zwischen Büroflirt und Herabwürdigung spannt, den Mann mit den alten Gewohnheiten auf die Frauen mit dem neuen Selbstbewusstsein treffen zu lassen.
Aber dann hat man nach der zweiten Dresdner Folge »Der König der Gosse« (MDR-Redaktion: Sven Döbler) das Gefühl, dass der geglückte erste Fall dem Drehbuchautor (Ralf Husmann, Mitarbeit: Mirka Kallwass) nur passiert ist. Dass er seine Figuren falsch versteht (oder zumindest nicht immer richtig) – nämlich nicht als Charaktere, sondern nur als Träger von austauschbarem Text, dass das Gefühl dafür fehlt (oder eben: Glückssache ist), worin der Reiz der Dresdner Konstellation besteht.
Dem Drehbuch geht es um Punchline-Eitelkeit; wie fern Kommissarin Gorniak (Karin Hanczewski) die Kondensmilchdosenwelt von Chef Schnabel (Martin Brambach) ist, kriegt man allein mit markigen Sprüchen nicht erzählt.
Auf ähnliche Weise ist es fad, dass der durchaus interessante Streit um Sprachpolitiken zu Beginn (»Penner« versus »Obdachlose«), von Kommissarin Sieland (Alwara Höfels) mit einer konsensualen Klischeebild-Benennung befriedet werden soll, die wirkt wie nicht im Dialog, sondern zum Fernsehpublikum gesprochen. Es fehlt den Reibereien an Schärfe und Genauigkeit, wie gerade die Szene zeigt, in der Sieland nach Hause kommt, einen leeren Kühlschrank vorfindet und der minderleistende Freund (Franz Hartwig) seine Schlumpeligkeit damit entschuldigt, dass sie zu viel arbeitet. Mit diesem kindergartenhaften Du-doch-selber kann man sich vielleicht durch Internetforen oder Talkshows bewegen – einen Konflikt, der einem die Figuren verständlich macht, also das Verhältnis von Sieland und ihrem Freund, bekommt man damit nicht entworfen.
Erschwerend kommt bei »Der König der Gosse« hinzu, dass der Fall nichts taugt. Der erinnert ein bisschen an die reale Geschichte des Berliner Treberhilfen-Chefs und Teure-Wagen-Fahrers Harald Ehlert erinnert. Tot ist der joviale Sack Taubert, der sein Geld mit staatlichen Sozialarbeitsgeldern macht. Warum er sterben muss, hat man schon wieder vergessen, wenn der Abspann einsetzt, weil nichts an dem beschriebenen Milieu interessant ist: Der Film klebt lauter Abziehbilder nebeneinander (scheinbar gute Menschen können auch böse sein, gähn), weil weder die Zeit hat noch die Lust, sich mit dem kriminalistischen Quark, den er anrührt, wirklich zu beschäftigen. Die Kommissarinnen tragen die Informationen zwischen den Verdächtigen hin und her, entdecken in laufenden Filmen entscheidende Hinweise oder machen beim privaten Abendessen mit Verdächtigen beiläufig kluge Beobachtungen. Relikte einer fernen Form: Irgendwo hinter diesen automatisch abfahrbaren Momenten steckte einmal ein Kriminalfilm.
Ein Satz, der aus Kollegen Freunde macht: »Machst Du auch noch irgendwas?«
Eine Aussage, mit der man auf Stehpartys reüssieren kann: »Möglich ist alles«
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