Leben am Fuß der Vulkane
Das schwere Leben auf der malerischen Halbinsel Kamtschatka
»Es ist wunderschön, jeden Tag die Vulkane zu sehen, obwohl wir wissen, dass sie nicht ungefährlich sind und wir auf einem Pulverfass sitzen«, sagt Valentina Galtinnikowa. Die 24-Jährige lebt in Petropawlowsk-Kamtschatski, der Hauptstadt der großen Halbinsel Russlands, die im Fernen Osten vom Beringmeer, Ochotskischen Meer und dem Nordpazifik umspült wird. Bezeichnet wird sie auch als das »Land der Vulkane«. Knapp 30 von gut 160 sind aktiv.
Zwei der größten Vulkane, die Korjakskaja Sopka und die Awatschinskaja Sopka, liegen direkt bei Petropawlowsk-Kamtschatski. Diese und einen dritten Berg, den Koselski- Vulkan, nennt man die Hausvulkane. Die Halbinsel mit ihren Gletschern, heißen und kalten Quellen, Geysiren, Vulkanen, Gewässern und Stränden mit schwarzem Vulkansand und Bimsstein, ihrer exotischen Pflanzen- und Tierwelt ist ein Touristenmagnet. Doch die Vulkanaktivität und Erdbeben stellen eine Gefahr für die Bewohner dar.
Die Natur ist eine Sache, die Lebensbedingungen sind eine andere. Die Einwohner erinnern sich an den Besuch des russischen Präsidenten Boris Jelzin in den 90er Jahren. Er war vom Zustand der Häuser und Straßen schockiert und übte scharfe Kritik. Oft wird beklagt, dass sich seitdem kaum etwas verbessert hat. Die Schuld gibt man den Gouverneuren, die von Moskau eingesetzt werden. Sie kämen von außerhalb und würden Kamtschatka nicht als ihre Heimat betrachten. Und weil sie hier nur vorübergehend regieren, konzentrierten sie sich eher darauf, sich selbst zu bereichern. Das hinterlässt Spuren, Siedlungen der Halbinsel wirken bis auf wenige Ausnahmen ziemlich öde.
Berichte aus dem Kreis der Korjaken, der sich über die Hälfte der Halbinsel erstreckt und von der Außenwelt so gut wie abgeschnitten ist, sind noch bitterer. Ebenso aus dem Rayon Aleutski auf der Beringinsel. Von Einheimischen oder Augenzeugen hört man von Armut, hohen Preisen und Mangel an Lebensmitteln.
Viktoria Okinowa, eine 25-jährige Korjakin aus dem Dorf Lesnaja, die in der Regionshauptstadt studiert, erzählt: »Um Lesnaja zu erreichen, muss ich zunächst nach Palana fliegen und danach mit einem geländegängigen Fahrzeug und im Winter mit einem Schneemobil weiterfahren. Der Flug ist schon teuer, dazu kommt noch die Fahrt. Wer dort nicht gemeldet ist, zahlt glatt das Doppelte. Manche Leute reiten von Palana nach Lesnaja oder gehen anderthalb Tage zu Fuß. Es ist schwer, an die Flugtickets zu kommen, man muss sich Monate im voraus auf die Warteliste setzen lassen. Es kam vor, dass sich Leute im Flughafen einquartiert haben, um sich einzutragen oder ein Ticket kaufen zu können. Die Lebensmittelpreise sind bei uns außerordentlich hoch. Mein Vater nahm mich deshalb seit meinem elften Geburtstag mit auf die Jagd.«
Petropawlowsk-Kamtschatski bietet einen traurigen Anblick. Die relativ enge, aber lang gezogene Stadt liegt auf Hügeln. Von oben gesehen wirkt sie bunt, aber aus der Nähe entpuppt sie sich als ungepflegt und verfallen. Einige Neubauten sind ohne Rücksicht auf das Gesamtbild errichtet worden. Die Bausubstanz stammt überwiegend noch aus der Sowjetzeit und besteht meist aus vier- bis fünfstöckigen Häusern. Fast überall bröckelt die Farbe ab, man sieht Wasser- und Brandspuren. Viele Denkmäler haben Risse. Auch die Seelöwenkolonie, eine von dreien weltweit, die sich innerhalb der Stadt befindet, bietet einen entsetzlichen Anblick. Rundherum nur Ruinen. Die schneeweißen Vulkane im Hintergrund untermalen nur das Bedrückende.
Das Leben hier ist sehr kostspielig. Seien es Dienstleistungen oder Essen, das von fern herangeschafft wird. Die günstigsten Lebensmittel sind die hiesigen Farne, Tintenfisch und Rochenflügel. Cucumaria, eine Seegurkenart, ist hingegen teurer. Entgegen allen Gerüchten sind auch Kaviar und Krabbenfleisch sehr teuer. Ganz zu schweigen von Obst und Gemüse. Keta-, König-, Rot- und Silberlachs sind auch nicht gerade günstig. Diejenigen, die selbst wildern oder einen Wilderer kennen, können mehr auftischen. Sie müssen dann aber mit Strafverfolgung rechnen und fürchten sich.
Die Bushaltestellen werden von der Hauptpost aus gezählt und jeder Bushaltestelle wird die entsprechende Kilometerzahl zugeordnet. Es scheint, dass auf diese Weise die Einöde nach Kilometern gemessen wird: ein Kilometer, zehn Kilometer ... Die Zählung endet im 30 Kilometer entfernten Jelisowo, auf das auch die Hausvulkane blicken. Vor der Stadteinfahrt steht eine Plastik: eine Braunbärin mit einem Lachs im Maul, gefolgt von ihrem Jungen. Darunter eine Aufschrift: »Kamtschatka. Hier beginnt Russland.« Jelisowo, wo sich auch der Flughafen befindet, gilt als viel gemütlicher als die große Nachbarstadt. Der Ort müsste aber auch saniert und renoviert werden.
Die Verkehrsschlagader der Halbinsel führt weiter über die oft schlechte Trasse nach Ust-Kamtschatsk, das 2010 von der Asche des höchsten aktiven Vulkans Eurasiens, der Kljutschewskaja Sopka, und des Schiwelutsch bedeckt wurde. Etwa 400 Kilometer vor Ust-Kamtschatsk liegt das recht große Dorf Milkowo. Zwischen verbrannten Holzbalken ruht hier auf der Erde eine verstummte Glocke, die als einzige den Kirchenbrand überlebte. In der Nähe steht eine verfallene nachgebaute Kosakenfestung, ein Ostrog. Die schäbigen Häuser zieren noch sowjetische Symbole: Juri Gagarin, das olympische Maskottchen Mischa, Panzerkreuzer »Aurora«, eine rote Nelke auf der Weltkugel, eine Friedenstaube mit der Aufschrift »Frieden für die Welt«.
In einem Haus befindet sich der Klub der Kamtschadalen. So werden die Nachfahren der Russen und Kosaken bezeichnet, die Ende des 18. Jahrhunderts hierher kamen und sich mit den indigenen Itelmenen, Korjaken und Tschuwanen vermischten. Der Verein besteht aus 16 Rentnerinnen. Leiterin ist die 72-jährige Bibliothekarin Valentina Chanilowa. »Früher wurde die Nationalität nicht in den Ausweisen vermerkt, deswegen haben wir jetzt Schwierigkeiten, unsere Stammbäume zu erstellen«, erzählt sie. »Seit 21 Jahren sammeln wir Informationen über unsere Vorfahren und versuchen vor Gericht, unsere Abstammung nachzuweisen. Wir sind keine Russen! Als Angehörige eines indigenen Volkes unterliegt man weniger den Jagd- und Angelbeschränkungen.« Die Ureinwohner sind empört, dass sie gezwungen sind Prozesse zu führen, um ihre traditionelle Lebensweise fortführen zu können.
Um dem Traurigen und Heruntergekommenen zu entgehen, empfiehlt man, der Trasse nicht weiter zu folgen, sondern etwa 150 Kilometer hinter Milkowo einen Abzweig in das ewenische Dorf Esso zu nehmen. So wie überall auf Kamtschatka kann man unterwegs Elche, Füchse und Braunbären treffen. Autos sind auf dieser Strecke eine Seltenheit. Geschichten von Bären, die Menschen überfallen, hört man oft. Ein Bär lässt sich tatsächlich blicken. Er sitzt mitten auf der Straße. Der Fahrer bremst in gehörigem Abstand und hupt lange, um ihn zu vertreiben.
Esso, das Verwaltungszentrum des Bystrinski Rayons, wird wegen seiner Lage in der Natur und einem Wintersportkomplex »die Schweiz Kamtschatkas« genannt. Der Ort ist zwar auch zum Teil marode, wirkt dennoch sauber und ruhig. Man sieht dort zweisprachige Aufschriften und Jurten auf manchen Grundstücken. Man hört Rennhunde bellen und das nationale Ensemble »Nulgur« proben. Unweit des Dorfes sind Rentiere zu sehen. Die Mülltonnen auf den Straßen stehen zum Schutz vor Bären hinter Gittern.
Das Dorf wird mit Wasser aus Thermalquellen geheizt. Wassili Andargan warnt: »Das heiße Thermalwasser aus der Leitung darf man nicht trinken, außerdem stinkt es. Das kalte stammt aus einer Quelle und ist trinkbar.« Der Mittdreißiger arbeitet in der Schule und lebt in einer äußerst bescheidenen Wohnung. Nicht einmal eine Waschmaschine besitzt er. Der Ewene, dessen Vorfahren auch Nanaier und Chinesen waren, wirkt europäisch und ist hoch gebildet. »Wir haben hier reichlich Kontakte zu Europäern, die als Freiwillige zu uns kommen.«
In der Verwaltung des Bystrinski-Naturparks, der wie auch das Tal der Geysire zum UNESCO-Welterbe zählt, kann man tatsächlich Volontäre aus verschiedenen Ländern treffen. Auch sie sind, ebenso wie die Einheimischen, angesichts der ungeheuren Preise und einer sehr geringen Auswahl an Lebensmitteln bestürzt. Manche Einheimische können sich zudem nur wenig Waren aus dem spärlichen Sortiment leisten.
Solche landschaftlichen Kleinode wie das weltberühmte Tal der Geysire bleiben den meisten Einwohnern unerreichbar. Sie können sich keinen Hubschrauberflug leisten. Nur ein Teil der hier Geborenen kann die eigne Heimat erkunden und genießen. Touristen und Volontäre haben mehr davon.
*Namen wurden geändert.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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