Ein Sturm verlängert Haitis Politkrise
Die Wiederholung der Präsidentschaftswahlen wurde wegen des aktuell wütenden Hurrikans auf unbestimmte Zeit vertagt
»Die jüngsten Vorkommnisse machen die Wahl unmöglich«, sagte Behördenchef Léopold Berlanger am Mittwoch. »Wir werden gemeinsam mit der Regierung und den nationalen und internationalen Partnern am Mittwoch kommender Woche oder später einen neuen Wahltermin bekanntgeben.«
Der Wirbelsturm der Kategorie 4 war am Dienstag auf Haiti getroffen und hatte erhebliche Schäden verursacht. Häuser wurden zerstört, Bäume knickten um, Straßen wurden überflutet. Tausende Menschen suchten Schutz in Notunterkünften. Der Südwesten des Karibikstaats ist noch immer von der Außenwelt abgeschnitten.
Am Sonntag hätten die Haitianer einen neuen Staatschef wählen sollen. Das Ergebnis der bisher letzten Wahl im vergangenen Oktober war wegen Manipulationsvorwürfen annulliert worden.
Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und die EU bewerteten die Wahl hingegen als grundsätzlich frei und fair. Sie vermuteten vielmehr, dass die Opposition durch ihre Proteste das für sie ungünstige Ergebnis kippen wollte. Jetzt mahnte
die OAS zur Eile. »Es ist wichtig, dass diese für die Konsolidierung der Demokratie so dringend notwendigen Wahlen so schnell wie möglich abgehalten werden«, twitterte Generalsekretär Luis Almagro am Mittwoch.
Wann auch immer die Wahlen stattfinden werden, unter den Haitianern ist Skepsis weit verbreitet. »An saubere und korrekte Wahlen glaube ich auch diesmal nicht«, sagt Richard Haspil. Der Druckereibesitzer und Bienenzüchter hat seine Zweifel, dass die Rufe von Betrug und Manipulation nach der kommenden Wahl des haitianischen Staatspräsidenten verstummt sein werden. Bei den Wahlen im Oktober 2015, bei der neben dem Staatspräsidenten auch ein Teil der Mitglieder des Parlaments, des Senats und der Kommunalvertretungen gewählt wurden, hat der 46-Jährige selbst für die haitianischen Sozialdemokraten für das Stadtparlament von Petión-Ville kandidiert.
Dass die Wahlen damals massiv manipuliert wurden, davon geht Haspil aus. Der zweite Wahlgang zum Präsidentenamt wurde damals nur verhindert, weil der Zweitplatzierte Jude Célestin von der Alternativen Liga für Fortschritt und Emanzipation (25,3 Prozent) sich weigerte, an der notwendigen Stichwahl gegen den Erstplatzierten teilzunehmen. Jovenel Moïse (32,8 Prozent) war der Wunschnachfolger des damals amtierenden Staatschef Michel Martelly. Der hatte den 48-Jährigen für die Parti Tèt Kale, der Kahlkopfpartei ins Rennen geschickt.
Martelly, der bereits fast ein Jahr ohne parlamentarische Legitimation und mit Ausnahmegesetze regierte, schied im Februar dieses Jahres aus dem Amt. Der Interimspräsident wechselte die Provisorischen Wahlkommission (CEP) aus und ließ das Wahlergebnis überprüfen. Unter den 5,8 Millionen Wahlberechtigten waren nicht nur HaitianerInnen aufgeführt, die bei dem schweren Erdbeben im Januar 2010 verstorben waren, sie hatten auch nachweislich abgestimmt. Die Wahl wurde auch wegen der Zombiestimmen annulliert. Dabei hatten nur 1,5 Millionen Personen, rund ein Drittel der Stimmberechtigten, überhaupt von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht.
Richard Haspil konstatiert einen grundsätzlichen Mangel im haitianischen Wahlsystem, der auch diesmal nicht behoben worden sei: Seit 2005 wurde das Register nicht mehr aktualisiert, Verstorbene nicht aussortiert. Dazu komme ein Chaos von sich drängelnden Wahlbeobachtern, denn die an der Abstimmung teilnehmenden Partei haben das Recht einen Vertrauen in jedes Stimmlokal zu entsenden, dort auch abzustimmen kann. Ob sie dies an ihrem Wohnort nicht auch schon getan haben, kontrolliert niemand. »Dem Wahlbetrug ist Tor und Tür geöffnet«, befürchtet Haspil.
Der Filmemacher Arnold Antonin plädiert trotzdem für eine Beteiligung bei der nächsten Präsidentschaftswahl. »Die Stimmabgabe ist wichtig«, sagt der international ausgezeichnete sozialkritische Filmregisseur. »Wem kein Kandidat zusagt, der soll wenigstens in Blanko abstimmen«, fordert er vehement als Zeichen für einen »Neuanfang« in Haiti. Ob es auch ein Schritt zu einem demokratischen Neuanfang im »Land der Berge« wird, »muss man sehen. Es ist wenigstens ein Schritt«, betont Antonin. Aber beide wünschen sich nichts sehnlicher, als dass die Wahlkrise endlich ad acta gelegt werden könnte, die seit mehr als einem Jahr das »Armenhaus Lateinamerikas« in Atem hält. Hurrikan »Matthew« sorgt mindestens nochmal für einen ungeplanten Aufschub.
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