Das Ende des Taschenmessers
Angstparanoia bestimmt unseren Umgang im öffentlichen Raum
Neulich habe ich in einem Bericht über den Rockmusiker Peter Maffay eine kleine Szene gelesen, die mich angerührt hat. Sein Sohn beklagt sich beim Pizzaessen, dass das Besteck nicht schneidet. Wortlos reicht der Vater sein Taschenmesser über den Tisch. Die Klinge zieht durch das zähe Stück wie durch Butter.
Das Taschenmesser gehört in vielen europäischen Ländern zum Lebensgefühl. Es ist ein Potenzbeweis mit großem Alltagsnutzen. Ob es darum geht, einen Brief zu öffnen, einen Bleistift zu spitzen, einen Apfel zu schälen, ein Stück Käse abzuschneiden oder eine Flasche zu öffnen - wer ein gutes Klappmesser in der Tasche hat, wird sich und anderen weiterhelfen.
Nun aber hat das Taschenmesser einen mächtigen Feind bekommen. Wenn wir es nicht verteidigen, wird es bald nicht mehr so selbstverständlich sein wie Schlüsselbund und Taschentuch. Das kleine, nützliche, harmlose Ding wird mehr und mehr zum Kollateralschaden des 2001 erklärten Krieges gegen den Terror. Aus dem Taschenmesser, das den Mann in den öffentlichen Raum begleitet, könnte schon bald eine Art Heimwerkzeug werden, das er tunlichst ablegen muss, sobald er aus der Haustür tritt.
Das Taschenmesser ist natürlich nur ein winziges Detail in der Fülle an Veränderungen, die seit dem Paukenschlag am 11. September 2001 zu einem Lehrstück über die Macht von Ängsten geworden sind. Die Angstlogik kennt kein Maß und keine Grenze. Wie wir nach dem schrecklichen Unglück durch den erweiterten Selbstmord eines Todespiloten von Germanwings im letzten Jahr erfahren haben, genügte es der technischen Angstabwehr nicht, zu verhindern, dass eine Nagelfeile oder ein Taschenmesser an Bord kommt. Zusätzlich wurde auch die Kabinentür so undurchdringlich gemacht, dass niemand zum Piloten vordringen kann, auch wenn diese Möglichkeit mehr als hundert Menschenleben retten könnte.
Seit den ersten Flugzeugentführungen in den achtziger Jahren werden Passagiere auf Waffen untersucht. Aber was eine Waffe ist, hat sich in dem Sicherheitsdenken der Experten in einer Weise neu definiert, die Paranoia als den normalen Gemütszustand im 21. Jahrhundert erscheinen lässt. Noch in den neunziger Jahren wurde das kleine Schweizermesser durchgewinkt. Heute treffen vorwurfsvolle Blicke und Beschlagnahmen schon den Mann, der einen winzigen Schraubenzieher zum Justieren seiner Brille mit sich trägt.
Die jüngsten Terroranschläge in Paris, Istanbul und Brüssel trafen die Flaniermeilen Europas. Hier konnten sich bisher die unterschiedlichsten Menschen unbekümmert begegnen. Keiner musste den Bogen eines Metalldetektors durchschreiten und abliefern, was er als »gefährliches« Werkzeug in der Tasche trug, wenn er einen Zug besteigen oder in einem Kaufhaus shoppen wollte. Ein öffentlicher Raum, in dem die Passanten der Zivilisiertheit und Gesetzestreue von ihresgleichen vertrauen, stellt sich jetzt als gefährdete Ressource dar. Uns Europäern ist dieser Raum bisher so selbstverständlich, dass wir seine privilegierte Qualität kaum wahrnehmen. Aber das könnte sich schnell ändern.
Was im frühen Mittelalter nur in den Klöstern gelang: eine geschützte Umgebung zu schaffen, in der sich Menschen zwanglos austauschen und gemeinsam neue Gedanken entwickeln konnten, wurde mit dem Erstarken der städtischen Unabhängigkeit ein Motor der europäischen Entwicklung. In vielen Entwicklungsländern gibt es diesen öffentlichen Raum nicht. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind für die Armen; die Reichen fahren in Limousinen mit verriegelten Türen und einem bewaffneten Chauffeur.
Vertrauen ist, wie Niklas Luhmann sagte, eine »riskante Vorleistung«. Die Bereitschaft, dieses Risiko auf sich zu nehmen, führte zur Blüte der europäischen Stadtkultur. Wenn jetzt der internationale Terrorismus Paris trifft, Istanbul, London und Madrid, wird die Angst zum schlechten Ratgeber. Wo einst Vertrauen war, regiert die Angst, wo jeder Bürger bis zum Beweis des kriminellen Gegenteils als vertrauenswürdig und friedlich gesinnt galt, verspricht eine hochgerüstete Überwachungsindus᠆trie die Verwandlung potenzieller Terroristen in von allem Verdächtigen gesäuberte Sicherheitskonsumenten.
Unter dem Gesichtspunkt der paranoiden Optimierung wäre es ein Skandal, wenn einer der Wächter das Taschenmesser seinem Träger mit den Worten zurückgibt: »Ich vertraue Ihnen!« In der Sorge um die Zivilgesellschaft hingegen wäre es ein Beweis dafür, dass sich die Macht des Terrors begrenzen lässt.
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