Halbgötter in kurzen Ärmeln
Unter Ärzten ist ein heftiger Streit um die Abschaffung des weißen Kittels entbrannt
Besonders schick sind Kittel zwar nicht, dennoch werden sie in unserer Gesellschaft von vielen Menschen getragen. Die wollen damit vor allem eines signalisieren: Hier ist ein Spezialist am Werke. Das kann ein Maler sein, ein Friseur, ein Verkäufer, ein Laborant oder ein Arzt. Ärztinnen und Ärzte bevorzugen weiße Kittel, denn die Farbe Weiß steht traditionell für Reinheit, aber auch für Heiligkeit. Darin liegt vielleicht einer der Gründe, warum der Volksmund Ärzte ehrfurchtsvoll als »Halbgötter in Weiß« bezeichnet.
Das war nicht immer so. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein trugen Ärzte lange schwarze Gehröcke, um damit Autorität und Würde auszustrahlen. Denn beim damaligen Stand der Medizin brauchte ein Arzt Autorität, um Patienten von der Nützlichkeit seines Tuns zu überzeugen. Auf Hygiene legten die meisten Ärzte keinen Wert. Weder wuschen sie sich nach jeder Behandlung die Hände, noch reinigten sie regelmäßig ihre »Dienstkleidung«. Warum auch, glaubte man doch, dass sich Krankheiten durch verdorbene Luft ausbreiten und keine ansteckenden Spuren an den Händen oder auf der Kleidung hinterlassen würden.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reifte die Erkenntnis, dass Ärzte, die ihre Hände ebenso reinigten wie ihre Kleidung, bessere Behandlungserfolge erzielten. Außerdem wurde offenbar, dass die meisten Krankheitserreger keine Hitze vertragen. Einen schwarzen Gehrock heiß zu waschen, war schlecht möglich. Deshalb gingen immer mehr Ärzte dazu über, weiße Kittel zu tragen, die man problemlos bei hohen Temperaturen reinigen und so keimfrei machen konnte.
Seither gilt der weiße Kittel als Statussymbol des Arztes. Vielen Patienten jedoch macht dieses Kleidungsstück Angst, die mitunter so groß ist, dass die Betreffenden selbst notwendige Arztbesuche meiden. Besonders Kinder verbinden einen weißen Kittel mit Schmerzen und unangenehmen Erfahrungen. Deshalb behandeln nicht wenige Kinderärzte ihre kleinen Patienten in neutraler Bekleidung, was, wie Studien belegen, auf Kinder beruhigend wirkt. Auch dort, wo operiert wird, tragen Ärzte heute vorwiegend hellblaue oder lindgrüne Kittel. Denn die Farbe Weiß hat einen unangenehmen Nebeneffekt, der gerade bei chirurgischen Eingriffen leicht zum Problem werden kann: Sie führt zur raschen Ermüdung der Augen.
Inzwischen ist der weiße Arztkittel noch aus einem anderen Grund in Verruf geraten. Namentlich dessen Ärmel stehen im Verdacht, so etwas wie Keimschleudern zu sein. Normalerweise untersucht oder behandelt ein Arzt am Tag mehrere Patienten. Dabei kämen sowohl seine Hände als auch die Ärmel seines Kittels häufig in Kontakt mit Krankheitserregern, sagt Kai Hankeln von der Geschäftsführung des Klinikkonzerns Asklepios. »Die Hände desinfiziert der Arzt, aber er wechselt nicht jedes Mal den Kittel.« Eine Studie aus Israel bestätigt dies. Knapp 20 Prozent der dabei befragten Mediziner gaben zu, ihre Arbeitskleidung mitunter nur einmal pro Woche zu wechseln.
In einigen europäischen Ländern wie in Großbritannien und den Niederlanden sind lange Ärmel bei Ärzten schon seit Längerem nicht mehr erlaubt. Im April 2016 haben auch die rund 100 Asklepios-Einrichtungen in Deutschland damit begonnen, den traditionellen Arztkittel durch kurzärmelige Kasacks zu ersetzen. Als Kasack bezeichnet man ein geschlossenes, kurzärmeliges Hemd mit einer Brusttasche und zwei Seitentaschen auf Hüfthöhe. Um die verschiedenen Berufsgruppen in den Asklepios-Kliniken auch künftig unterscheiden zu können, erhalten Pflegekräfte Kasacks mit einem grau abgesetzten V-Ausschnitt sowie einem grünen Streifen am Revers. Ärzte tragen dagegen eine blütenweiße Variante mit Stehkragen und Knopfleiste.
Unter den Asklepios-Mitarbeitern sind die Meinungen über die neue Kleiderordnung geteilt. »Jüngeren Medizinern fällt der Abschied vom traditionellen Kittel leichter«, so Hankeln. »Bei älteren Chefärzten ist das schon eine gewisse Hürde, die sie überspringen müssen.« Gleichwohl sind auch jüngere Ärzte von der Abschaffung des Kittels nicht gerade begeistert. Wie zum Beispiel die Herzchirurgin Friederike Schlingloff, die in der »Marburger Bund Zeitung« schreibt: »Gerade im heutigen Arbeitsalltag brauche ich ein Kleidungsstück, das mich sofort als Arzt erkennbar macht, mehr denn je.« Ohne Kittel, so ihre Befürchtung, werde sie als junge Ärztin von älteren Patienten nicht wirklich ernstgenommen. »Wie oft habe ich schon eine mehrstündige, aufwendige Visite mit Verbandswechsel absolviert, nur um hinterher von den Patienten gefragt zu werden: ›Wann kommt denn heute eigentlich der Arzt?‹« Besonders in Notfallsituationen, etwa bei einer Reanimation auf einer fremden Station, sei es wichtig, alle Anwesenden auf den ersten Blick nach ihrer Zuständigkeit einschätzen zu können. Es wäre für die Patienten fatal, müsste man hier erst die Kompetenzen klären.
Schlingloff ist überzeugt: »Patienten fühlen sich sicherer und vertrauen Ärzten, die einen Arztkittel tragen, mehr als Ärzten ohne Kittel.« Zudem sei keineswegs erwiesen, dass sich auf Kasacks weniger Bakterien sammelten als auf Kitteln. Tatsächlich ist die Datenlage nicht eindeutig. Zwar wies die »Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention« beim Robert Koch-Institut (RKI) im letzten Jahr darauf hin, dass Studien eine Kontamination von langärmeligen Arztkitteln bestätigten. Eine offizielle Empfehlung, den Kittel abzuschaffen, hat das RKI bisher aber nicht ausgesprochen. Noch fehle der sichere Beweis, dass hiervon wirklich ein Infektionsrisiko ausgehe. Doch wie will man einen solchen Beweis führen, ohne die Gesundheit von Menschen zu gefährden? In einem Leserbrief zu Schlingloffs Artikel stellte ein Arzt aus Bayern lapidar fest: »Man erlaube mir als Kurzarmkittelträger die pragmatische und ganz und gar unwissenschaftliche Bemerkung, dass man einen nicht vorhandenen Ärmel auch nicht verunreinigen kann.«
Theodor Windhorst, der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, sieht das ähnlich. Durch die Einführung der kurzärmligen Berufsbekleidung für Ärzte könne man viele Patienten mit einfachen Mitteln vor einer Infektionsübertragung schützen. »Weniger Infektionen bedeuten weniger Antibiotika-Einsatz, was wiederum hilft, die gefährliche Resistenzbildung bei Krankheitserregern zu verhindern.« Als Statussymbol sei der Kittel ohnehin fehl am Platze, meint Windhorst. Schließlich gebe es andere Möglichkeiten, Ärztinnen und Ärzte als solche kenntlich zu machen, zum Beispiel durch ein Namensschild an der Kleidung. Was so einfach klingt, dürfte in der Praxis auf große Widerstände stoßen. Denn im hierarchisch organisierten Medizinbetrieb, in dem Chefärzte oft wie kleine Könige herrschen, spielt auch die optische Wahrung der Rangordnung nach wie vor eine wichtige Rolle.
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