Der Doppelgänger
Willem Frederik Hermans: »Die Dunkelkammer des Damokles« führt in die Zeit der deutschen Besetzung der Niederlande
Willem Frederik Hermans, in den Niederlanden ein viel gelesener Autor der klassischen Moderne, wurde auch hierzulande schon verlegt. Und doch mag »Die Dunkelkammer des Damokles« für manch einen eine Neuentdeckung sein. 1958 erstmals erschienen, hat es bis heute nichts an Spannung, Intensität und Vielschichtigkeit verloren. Im Gegenteil, die historische Distanz macht den Blick auf die tragischen Verwicklungen menschlicher Existenz in chaotische Zeitläufe, die hier geschildert werden, vielleicht noch deutlicher und schärfer als ein geringerer zeitlicher Abstand zum Geschehen.
Konkret geht es um Ereignisse während der deutschen Besatzung in den Niederlanden zwischen 1940 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. den ersten Monaten danach. Aber nicht die Kriegshandlungen selbst bestimmen den Inhalt, sondern das Zerbrechen von Ordnung, Moral und Zivilisation in einer rechtlosen und chaotischen Zeit. Das mag anspruchsvoll klingen, ist aber vom Autor sehr geschickt in die Romanhandlung verpackt.
Das Ganze beginnt ein bisschen skurril, aber schon bald wird der Leser in ein spannendes Kriminalgeschehen hineingezogen, in den Sog von undurchsichtigen, schnell aufeinander folgenden, so drastischen wie obskuren Ereignissen. Schließlich entwickelt sich der Roman zum Psychogramm eines Jämmerlings, dem, wie er meint, »die große Stunde« geschlagen hat - ein fataler Irrtum, wie sich herausstellen wird.
Die Hauptperson des Romans ist ein junger Mann namens Henri Osewoudt, ein Tabakhändler, den das Schicksal nicht gerade mit äußerlichen Vorzügen bedacht hat. Als er ein Kind war, hatte seine Mutter in einem Wahnsinnsanfall ihren Mann erstochen, worauf sein Onkel ihn zu sich nahm. Er wurde von seiner sieben Jahre älteren Cousine verführt, heiratete sie und übernahm den Tabakladen des Vaters. Osewoudt, klein, mickrig, mit einem Mädchengesicht ohne Bartwuchs, hat Minderwertigkeitskomplexe. Das wird sich mit einem Mal ändern, als ein Mann mit fast gleichem Äußeren wie er seinen Laden betritt, ein Doppelgänger, den man für einen Zwillingsbruder halten könnte. Der Mann heißt Dorbeck, ist niederländischer Offizier und lässt Osewoudt, der bisweilen im Hinterzimmer seines Ladens solche Arbeiten übernimmt, einen Rollfilm für ihn entwickeln. Mit diesem Auftrag hat er ihn auch schon in den vermeintlichen Widerstand gegen die deutschen Besatzer hineingezogen.
Nun setzt der Autor »eine teuflische Schicksalsmaschinerie« (Cees Nooteboom im Nachwort) in Gang. Dorbeck erteilt Osewoudt einen Auftrag nach dem anderen, und der gehorcht blindlings seinen Anweisungen. Er gerät in Spionagegeschichten, Liebesaffären und Schießereien und liquidiert - ohne moralische Skrupel - Menschen, die er für Feinde und Verräter hält. Die Identifikation mit dem stärkeren Dorbeck, seinem zweiten Ich, lässt ihn die eigene Identität verlieren. Er lebt mit falschen Namen und wird zum Spielball verschiedener Gruppierungen, zum Gehetzten, Gejagten, Gefangenen. Der Autor hat ein Pandämonium des kriegsbesetzten Landes mit Geheimagenten, Verrätern, Denunzianten, Jägern und Gejagten geschaffen. Als der Krieg zu Ende ist, ist auch Dorbeck auf Nimmerwiedersehen verschwunden, und Osewoudt muss sich vor den Richtern für seine Taten verantworten. Die machen es sich nicht leicht, die Wahrheit herauszufinden. Aber letztlich bleibt vieles verborgen wie in einer Dunkelkammer.
Das Verrückte ist, dass man gegen alle Vernunft und Moral die Tragödie atemlos verfolgt und bis zuletzt mit dem kleinen, miesen Möchtegern, der so skrupellos zum Verbrecher wird, hofft, dass er doch noch seinen Hals aus der Schlinge ziehen kann.
Willem Frederik Hermans: Die Dunkelkammer des Damokles. Roman. Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert. Nachwort von Cees Nooteboom. Aufbau Verlag. 383 S., geb., 22,95 €.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.