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Bengalische Kindheit
Shumona Sinha kehrt zu ihren indischen Wurzeln zurück
Shumona Sinha ist mit dem Roman »Tötet die Armen« 2011 in Frankreich bekannt geworden. Die aus Indien stammende, seit 2001 in Paris lebende und auf Französisch schreibende Autorin hatte darin wütend, gleichzeitig aber in einer poetischen Sprache, die absurde Asylpraxis in einer französischen Ausländerbehörde beschrieben. Ihr Roman »Kalkutta« hat nicht mehr den radikalen Ton des Vorgängers. Ihre poetische Schreibweise hat Shumona Sinha jedoch beibehalten.
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* Shumona Sinha: Kalkutta. Roman. A. d. Franz. v. Lena Müller. Edition Nautilus. 192 S., geb., 19,90 €.
Nach langer Abwesenheit kehrt Trisha in den Ort ihrer Geburt zurück. Ihr Vater ist gestorben und muss beerdigt werden. »Kalkutta schmilzt in der Sonne wie ein schmutziges Eis«, so beschreibt sie die Stadt bei ihrer Ankunft. »Auf der Straße sind nur die unterwegs, die offensichtlich keine andere Wahl haben. Sie lungern herum, rennen, schreien und schimpfen. Das Leben ist auf dem Gehsteig ausgebreitet.« Nach der Trauerfeier kehrt sie in das elterliche Haus zurück, in dem am Ende nur noch ihr Vater, ein Astronom, gelebt hatte. Gegenstände und Gerüche erinnern sie an ihre Kindheit. Zum Beispiel eine Steppdecke, in die ihr Vater eines Nachts einen Revolver eingenäht hatte. Heimlich hatte sie ihn dabei beobachtet. Er war Mitglied der kommunistischen Partei Indiens gewesen und hatte die Waffe angeschafft, nachdem Anschläge auf Kommunisten verübt worden waren.
Auch viele andere Geschichten, die der Leser von Shumona Sinhas Heldin erfährt, sind mit der Gesellschaft und der Geschichte Bengalens verbunden. Annapurna, Trishas Großmutter, hatte sich der Tradition verweigert, indem sie nach dem Tod ihres Mannes nicht dem Clan der Witwen im Dorf beitrat, sondern nach Kalkutta zu ihrem Sohn zog. In den 1990er Jahren, als sich in ganz Indien viele über die Religion radikalisierten, wurde sie zur Sympathisantin der Hindu-Partei. Trishas Vater hatte dafür kein Verständnis. Am Ende überlebt Annapurna ein Massaker an Moslems nur, weil einer der Täter sie als Hindu erkannte.
Am Anfang erzählt Trisha in der Ich-Form von ihrer Angst, der Mutter zu begegnen, »Angst vor dem, was man ihren Wahnsinn nannte«. Dann wechselt die Autorin die Perspektive, indem sie in dritter Person von Trisha erzählt: von einer Kindheit, in der die Mutter wegen ihrer Depressionen oft tagelang nicht ansprechbar war. Trisha begann, von zu Hause wegzulaufen, »um ihre Mutter hinter sich zu lassen, ihre Melancholie, ihre Angst«. Erst am Ende des Buches, als Trisha wieder in der Ich-Form erzählt, treffen sich beide noch einmal im Elternhaus. Als es dunkel wird und ihnen die Familienanekdoten ausgehen, warten sie unwillkürlich auf den Vater. Aber »niemand kommt, niemand stößt das Gartentor auf, der Kies auf dem Weg bewegt sich nicht, die feuchte Dunkelheit verschluckt uns langsam, das Haus, den Garten, mich und Mutter, es wird spät, niemand geht, niemand kehrt heim«.
Leider gelingt es Shumona Sinha oft nicht, die dichte atmosphärische Erzählweise der Ich-Erzählerin vom Anfang und vom Ende des Romans in den einzelnen Geschichten wieder aufzunehmen. Manches wirkt formelhaft verkürzt. Aber dann wird der Leser wieder entschädigt. Entschädigt durch poetische Passagen über eine bengalische Kindheit zwischen dem politischen Engagement des Vaters und den Depressionen der Mutter.
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