Wer sind »die da unten«?
Christian Baron ist entsetzt über linke Vorurteile gegenüber Arbeitern
In diesem Sommer ist die Diskussion um die »kleinen Leuten« neu entfacht. Die einen stellen mit Bedauern fest, was die anderen mit teilnahmslosem Achselzucken quittieren: Die gesellschaftliche Linke hat sich seit langem von der Arbeiterklasse entfernt. Von dieser Entfremdung handelt auch das Buch von Christian Baron.
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* Christian Baron: Proleten, Pöbel, Parasiten. Warum die Linken die Arbeiter verachten. Das Neue Berlin. 288 S., br., 12,99 €.
Der Autor wählte verschiedene Erzählebenen. Der 31-Jährige berichtet zunächst bewegend von seiner Kindheit und Jugend in ärmlichen Verhältnissen. Seine Mutter, Schulabbrecherin ohne Berufsausbildung, starb an Krebs, da war er noch ein Kind. Sein Vater, ein Möbelpacker und Schläger, erlag den Drogen, kurz bevor der Sohn sein Abitur ablegte. Baron wuchs mit seinen drei Geschwistern bei seiner Tante auf. Die Familie, so pflegte es der zuständige Jugendamtsmitarbeiter gerne zu sagen, sei »Sozialhilfe-Adel«. Doch Christian Baron wurde das, was den anderen aus seiner Familie verwehrt blieb: Akademiker. Heute ist er Feuilletonredakteur beim »neuen deutschland«.
Während des Studiums kam Baron, der gern Politik machen wollte, in Kontakt mit Linken unterschiedlicher Coleur: etwa mit linksliberalen Bessermenschen, postmodernen Identitätsfetischisten, orthodoxen Marxisten und Lebensführungsanarchisten. Die Ausein-andersetzung mit den verschiedenen Strömungen bildet die zweite, zentrale Erzählebene. Baron musste schnell feststellen: Der gesellschaftlich verankerte Klassenhass gegen »die da unten« ist auch bei jenen verankert, die vorgeben, im Interesse der Geknechteten und Verachteten zu handeln. Es scheint, als bliebe ihm die deutsche Linke irgendwie fremd. Das würde erklären, warum er zumeist von »den Linken« schreibt. Man spürt förmlich auf jeder Seite die innere Zerrissenheit des Autors. Einerseits würde er am liebsten gar nichts mehr zu tun haben mit überheblichen, akademischen Linken.
Andererseits schreibt er aus der tiefen Überzeugung, dass diese Gesellschaft eine starke Linke braucht − und wirbt um mehr Verständnis für die Arbeiter und Deklassierten. Entsprechend eine weitere wiederkehrende Ebene im Buch: In glänzend geschriebenen Passagen berichtet er von Arbeitern und Erwerbslosen, wie sie sich für Flüchtlinge engagieren oder in der AfD die einzige Alternative für sich sehen. Der mittlerweile in Berlin lebende Baron bemüht hier insbesondere Beispiele aus seiner Heimatstadt Kaiserslautern, einer Stadt, die - wie er schreibt - grandios scheiterte beim Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft.
Zwei weitere Ebenen sind dem Diskurs über materiell Arme in Deutschland gewidmet. Hier wird die Ideologie enthüllt, die hinter der Rede von der »Neuen Unterschicht« steckt, flankiert mit Ausführungen zum Klassencharakter der Gesellschaft. Baron schreibt profund über Einkommens- und Vermögensverteilung sowie Sozial- und Bildungspolitik.
Wenn der Autor mit der hiesigen Linken hadert, läuft er − diplomatisch ausgedrückt − nicht gerade Gefahr, sich in Differenzierungen zu verlieren. Gewiss trifft die Abkehr von der Arbeiterklasse nicht auf alle linken Strömungen zu − und die meisten Linken dürften über viele der aufgeführten unrühmlichen Beispiele ignoranter Genossen ebenfalls den Kopf schütteln. Doch Kompromisslosigkeit ist nicht das schlechteste Mittel, um die linke Debatte zu befeuern. Es handelt sich bei dem Buch um eine Streitschrift im besten Sinne.
Streit sucht Baron auch mit sich selbst. So reflektiert er, wie er herablassend und selbstgefällig mit seinen Verwandten diskutierte, nachdem er sich politisierte. Am Ende fragt er sich, warum ausrechnet er »es« geschafft habe, im Gegensatz zu seinen Geschwistern. Seine ehrliche, bemerkenswerte Antwort: »Weil ich meine soziale Herkunft zu einem großen Teil verleugnet habe, konnte ich zu dem werden, der ich heute bin.«
In seiner Parteinahme für die unteren Klassen ist Baron nie arbeitertümelnd, im Gegenteil: Er kritisiert auch jene Linken, die allzu gerne all ihre Erwartungen auf die Arbeiter projizieren. Er zeigt, dass selbst Arbeiter und Erwerbslose vielfach »nach unten treten«, es gegenwärtig in Deutschland keine für ihre ureigenen Interessen kämpfende Arbeiterklasse gibt. Daran trägt die Linke eine Mitschuld. Auch sie ging der Ideologie auf dem Leim, es gebe keine sozialen Klassen mehr, weshalb sie sich auf identitätspolitische Themen beschränkte: »Sie begannen, Vorurteile zu bekämpfen und vergaßen dabei, gegen das vorzugehen, was sie hervorbringt«, so Baron.
Um die Entfremdung von der Klasse zu verstehen, liefert das Buch wichtige Anregungen. Die Krise der Linken und der Arbeiterklasse zu begreifen, ist wichtiger denn je, denkt man an die Erfolge der AfD. Noch ist es nicht zu spät: Es wird von der gesellschaftlichen Linken abhängen, in welche Richtung sich diese Gesellschaft entwickelt.
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