Dann werde ich dennoch weiterleben

»Die Welt im Rücken« von Thomas Melle ist ein wahnsinnig gutes Buch über eine schwere psychische Erkrankung

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 4 Min.

Irgendwann hatte Thomas Melle wirklich alle gegen sich aufgebracht. Mit dem verletzenden Humor des völlig Verzweifelten, dem das eigene abgedrehte Verhalten nicht auffällt, vergrätzte er sogar jene, deren Hilfe er am meisten gebraucht hätte. Denn der an einer bipolaren Störung leidende Melle befand sich im Jahr 2010 im Zustand einer schweren Manie, die sich wenig später in eine tiefe Depression verwandeln sollte - und das bereits zum dritten Mal. Manisch-depressiv nennt man das gemeinhin, und auch der verklausulierten Begriffen abgeneigte Schriftsteller charakterisiert sich auf diese politisch inkorrekte Weise.

Was gut zu der Schonungslosigkeit passt, mit der Melle die eigene Erkrankung in seinem autobiografischen Buch »Die Welt im Rücken« aufarbeitet. Wie ein »hirnversenkter Clown« sei er durch die Stadt gerast, er »hörte das Sausen der Ringe des Saturn und die Kadenzen der Sphärenmusik«, setzte sich bei McDonald’s zum Big Mac essenden Thomas Bernhard, hatte Sex mit Madonna und traf den jungen Pablo Picasso im Szeneclub. Er schrieb fiebrig Mails an deutsche Kulturpromis wie Ulf Poschardt, Dietmar Dath oder Moritz von Uslar und pöbelte sich durch Theaterpremierenfeiern und Buchvorstellungen. Er hielt einen Freund für einen ihn bösartig verfolgenden Polizisten und sammelte berlinweit Hausverbote.

Die auf die leidvollen Höhenflüge folgenden Depressionen dauerten mindestens so lange wie die Manien - einmal länger als ein Jahr. Für die Verarbeitung seiner Erkrankung findet Melle eine Sprache, die den erschütternden Inhalt veranschaulicht, ohne ins Larmoyante zu verfallen: »Ich sitze da und bin ein Gegenstand. Ich gehöre nicht mehr zur Klasse der Menschen, sondern zu der der unbelebten Gegenstände, Dinge, Objekte: seelenlos und tot. Die Menschen um mich herum sind, obwohl ich es besser weiß, ebenfalls nur noch unbelebte Gegenstände. Ihre Worte, wenn es noch welche gibt, erreichen mich kaum.«

Als er bereits ein gefragter Stückeschreiber gewesen ist, veröffentlichte er auf seinem Weblog einen Nachruf auf sich selbst und manipulierte seinen Wikipedia-Eintrag. Da stand dann, ein Polizist habe ihn in Leipzig erschossen. Freunde alarmierten umgehend die Polizei, die Melles Wohnung aufbrach, wovon der mit ausgeschaltetem Handy tatsächlich in Leipzig weilende Wahnsinnige natürlich nichts mitbekam.

Geschichten dieses Kalibers finden sich zuhauf in diesem nicht als Sachbuch und nicht als Roman zu deklarierenden Werk. Während der Lektüre sieht man vor dem geistigen Auge nicht nur Melle unablässig fliegen und fallen, trauern und triumphieren, man glaubt ihn auch wild die eigenen emotionalen Erinnerungen in die Tastatur hauend betrachten zu können, als sei das Schreiben für ihn nichts anderes gewesen als eine Teufelsaustreibung.

Denn am Ende seiner bisher drei manisch-depressiven Schübe stand eine verheerende Bilanz: »Die Anker meiner Existenz waren weggerissen und fortgeschwemmt. Ich hatte kein Konto, keine eigene Wohnung, nur Schulden und Prozesse am Hals. Ich wurde betreut, war offiziell obdachlos und ›seelisch behindert‹.« Sechs Jahre hat ihn die Bipolarität bisher insgesamt gekostet. Und obwohl er selbst keineswegs geschlechterklischeegerecht den starken Mann spielen will, so weiß er doch, dass ihm definitiv nichts anderes bleibt, als die stets mögliche Rückkehr der Krankheit zu ertragen: »Sollte ich wieder dem Wahn verfallen, werde ich es als Schicksal hinnehmen. Ich meinte schon nach der zweiten Manie, eine dritte würde ich nicht überleben. Habe ich aber. Würde ich wieder. Ich mag mich wieder umbringen wollen, irgendwann. Dann werde ich dennoch weiterleben.«

Dass bei weitem nicht nur aus großem Leid auch große Literatur entstehen kann, darauf können sich aus guten Gründen heute fast alle einigen. Thomas Melle aber zeigt, dass die künstlerische Aufbereitung seelischer Qualen anderen Menschen eine Sichtweise eröffnen kann, wie es keinem klassischen Fach- und Sachbuch möglich wäre. Ihm ist es gelungen, seine Tortur so virtuos in Worte zu fassen, dass der Jury in diesem Jahr eigentlich nichts anderes einfallen darf, als Thomas Melle - der bereits zweimal nominiert war - für diesen Steckerzieher den Deutschen Buchpreis zu verleihen.

Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Rowohlt. 348 S., geb., 19,95 €.

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