Beherzte Kaltblütigkeit
71 Gedichte, in denen sich uns Weltgelände in Erinnerung bringen: Ralph Grünebergers Band »Die Saison ist eröffnet«
Johannes R. Becher, unter dessen Namen das erste Leipziger Literaturinstitut segelte oder driftete und mitunter schlingerte - jenes Institut, an dem Ralph Grüneberger mit einiger Lust, glaube ich, studiert hat - Becher also wies Fragen wie »Wozu schreibst Du?« oder gar »Für wen schreibst Du?« kategorisch zurück; vielmehr wollte er erkundet wissen: »Wer bist Du, der Du schreibst?« Das unverwechselbar Individuelle, das persönliche Eigentümliche sei es, das das lyrische Gebilde bestimmt und im Gelingensfalle adelt.
Ähnliches auferlegte uns der hervorragende Lehrer an diesem Institut, Georg Maurer, der den Ich-Gewinn des Dichtenden als notwendige und beinahe hinreichende Bedingung für Welt-Gewinn betrachtete, für das Vermögen also des In-sich- Hereinholens des Außen. Leicht übertrieben gesagt: Der Schreibende möge sich mit einem Quäntchen Narzissmus belehnen.
Grüneberger, der Vielwissende, weiß das. Gleichwohl, scheint mir, geht er so nüchtern wie anmaßend den umgekehrten Weg. Er wischt den ihm zu simplen Satz »Erkenne dich selbst« beiseite, und - sich zu einiger Kaltblütigkeit bestimmend - besichtigt er Welt: die Lausitz und Louisiana, Gorleben und Groitzsch, Wien und Wurzen.
Wurzen? Ja, es ist eine Stadt, die 1945 den Faschisten-Befehl, sich keinesfalls zu ergeben, keineswegs befolgt. Von jenem anhaltischen Dorf erfahren wir, welches sich tatkräftig ein rechtsradikales »Ver-Bildungszentrum« verbittet. 71 Gedichte (schöne Primzahl), in denen sich uns Weltgelände und ihre Geschicke in Erinnerung bringen. Selbstredend findet sich - unaufgeregt - das »Mangelland« DDR protokolliert. Dieses saß insofern nicht auf dem Trockenen, als es keine trockenen Rotweine gab und unzureichend viele trockene Wohnungen (Ralph Grüneberger, damals in Markranstädt zuhause, kann davon ein bissiges Lied singen). Wir erfahren, wie ihm in den Siebzigern das als unbotmäßig lang geltende Haar gekürzt wurde auf offener Rudolstädter Straße; nachgezeichnet findet sich eine Ballonflucht gen Westberlin. - Die später brachial durchgreifende »Veruntreuhand« gab freilich auch keinen Anlass zu Frohsinn.
Allenthalben also ein karg-spartanisches Sich-Umtun, auch innerhalb der Schreiber-Zunft; bemerkenswert, wie gerade Leute konträrer Poetik - so die Mayröcker oder Hilbig - nobel in Augenschein genommen werden.
Was also Grüneberger zu unterbreiten sucht, ist - in auf Unbestochenheit setzender Objektivität - unser Daseins-Totum. Er sucht zu unterbreiten? Nein, er unterbreitet. Und die Frage ist, ob hinter all dieser Klarsicht auch der Dichter sichtbar wird, sein Seelenprofil sich uns klärt.
Urteilen Sie selbst! Im Gedicht »Luther erlebbar« heißt es: »Der Häuer-Sohn nimmt/ Das Herrschaftswissen auseinander/ Subversiv dann die beweglichen/ Lettern führen zu beweglichem Geist.« Luther ist wahrgenommen als Subversiver, als Aufrührer, der das obrigkeitliche Wissen nicht lediglich seziert, sondern ein Beherrschten-Wissen, vermittels der Gutenbergschen Erfindung, in die plebeijischen Massen trägt; die Reformation ein Aufbruch.
Und heute? Ein Abwinken: »Alle waren schon immer für die Reformation/ Wie alle schon immer, immer dafür sind.« Und was die beweglichen Lettern angeht: Sie sind arg beweglich geworden, bis in die Sprachverstümmelung, in die Sprachverhunzung hinein. Schlimmer: Sprache sieht Grüneberger in die Sprachlosigkeit driften: »Heute, wer twittert was?/ Die Biblia reduziert auf 140 Zeichen/ Der Wort-Schatz im Chip.« Und wenn es weiter im Text heißt: »Wer endlich gibt dem Volke wieder Sprache?«, dann ist es ein schwarzseherisches Stöhnen, das unserer Gegenwart ein prekäres Zeugnis ausstellt. Welche »Saison« da auch immer »eröffnet« sein mag, eine Epoche ist es nicht. Es ist eher Endzeitliches, das der Dichter auf uns zusickern sieht.
Zum Schluss Erquicklicheres: das Gedicht »Sperrstunde«. Ein wundervoll sinnliches Gebilde, in dem die eingepferchten Pferde, am lustvollen Mittun gehindert, nur neidisch wiehern können in das Frohlockens-Juchzen der menschlichen Beischläfer, welches gar ein Gatter zu einstimmender Resonanz beschwingt. Hier lässt einmal das »Völlegefühl« - ich zitiere ein Gedicht etwa diesen Titels - »das volle Gefühl n i c h t vermissen«: »Die Büsche tragen/ Broschen./ Zum singenden Zaun/ Wiehern die Pferde/ Die nicht zusammen/ Kommen dürfen/ In der Sperrstunde/ Der Vermehrung.« (Aufregend, nicht wahr?, der Zeilensprung »zusammen kommen«: zueinander finden sowie gemeinsam »kommen«, orgasmisch.)
Ein Buch ist uns an die Hand gegeben, Kronstein vielleicht des Gewölbes, das die Vielzahl von Grünebergers Lyrik-Bänden bildet, und es bleibt nichts als zu gratulieren. Wem? Dem Dichter selbstverständlich, indes auch dem Dr.-Ziethen-Verlag. Der fühlt sich aufs erfreulichste gehalten, dreimal jährlich so wesentliche wie daher uneinträgliche Dichtung zu edieren. (Glanzvoll übrigens seine weltweit wohlbeleumundeten Deutungs-Bücher zu Sonaten und Partiten Bachs, allen voran BWV 1004.)
Ralph Grüneberger: Die Saison ist eröffnet. Neue Gedichte mit Zeichnungen von Karl Oppermann und einem Nachwort von Norbert Schaffeld. Dr.-Ziethen-Verlag, 96 S., 14,99 €.
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