»Sie sollen alle gehen«

Auf Venezuelas Straßen richtet sich die Wut gegen alle politischen Lager / Viele Bürger sind demotiviert und suchen nach Lösungen im Kleinen

  • Jonas Holldack, Caracas
  • Lesedauer: 4 Min.

Venezuela erlebt erneut eine Woche harter Auseinandersetzungen und Proteste. Während der Präsident Nicolas Maduro Moros im Nahen Osten versuchte, eine Allianz für höhere Ölpreise zu schmieden, verabschiedete die von der Opposition dominierte Nationalversammlung am Sonntag ein Papier, das Maduro vorwirft, die Verfassung gebrochen zu haben. Anhänger der chavistischen Regierung versammelten sich daraufhin vermeintlich spontan, drangen in das Gebäude ein und warfen den Abgeordneten ihrerseits vor, einen Staatsreich zu verüben.

Wenige Tage zuvor - der Präsident war schon außer Landes - verkündete der Nationale Wahlrat (CNE), dass der zweite nötige Schritt für ein mögliches Abwahlreferendum - das Zusammentragen von 20 Prozent der Unterschriften aller Wahlberechtigten - auf unbestimmte Zeit verschoben wird. Die Opposition kündigte umgehend Proteste an. Ab Mittwoch werde es landesweit Demonstrationen geben, erklärte der rechte Oppositionspolitiker Henrique Capriles: »Das ganze Volk wird mobilisiert, um die verfassungsmäßige Ordnung wiederherzustellen.« Schon am vergangenen Wochenende demonstrierten einige tausend weißgekleidete Frauen in der Hauptstadt Caracas gegen die Entscheidung der Wahlbehörde. Angeführt wurde der Protestmarsch von Lilian Tintori, der Ehefrau des inhaftierten Oppositionsführers Leopoldo López.

Trotz dieser explosiven Situation: Immer weniger Menschen folgen den regelmäßigen Demonstrationsaufrufen beider Seiten. Sind vor wenigen Jahren noch Hunderttausende auf die Straßen gegangen, so sind heute schon zehntausend Teilnehmer eine hohe Zahl. Die ökonomische Krise, die das Land durchläuft, wird zu einer politischen Krise und demobilisiert die Basis. Darunter leidet die Regierung weit mehr als die Opposition. Auch dieser gelingt es jedoch nicht, daraus wirklich Profit zu schlagen. »Que se vayan todos« (»Sie sollen alle gehen«) kann man als Kommentar in so mancher Schlange vor dem Supermarkt hören - wie 2001 in Argentinien. Denn keine der beiden Seiten kann Alternativen aufzeigen oder effiziente Politik machen, die aus der Krise herausführen könnte.

Die Nationalversammlung hat seit ihrer Wahl im Dezember 25 Mal nicht das notwendige Anwesenheitsquorum erreicht, um Beschlüsse zu fassen. Die Beschlüsse, die gefasst worden sind, wurden nahezu alle vom Verfassungsgericht für nicht verfassungskonform befunden.

Die teils ultrarechte Opposition heizt derweil die explosive Stimmung an. Nur allzu gerne würden einige Teile des »Tischs der demokratischen Einheit«, wie das Oppositionsbündnis euphemistisch heißt, Venezuela zu einem »Failed State« erklären. Seit 17 Jahren wirft das Bündnis erst Chávez und nun Maduro vor, diktatorisch zu handeln und fleht die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) an einzugreifen. Noch vor nicht allzu langer Zeit riefen Teile der ultrarechten Opposition offen zu Gewalt gegen die Regierung auf. Auch deswegen hat die Opposition Rückhalt im Volk verloren.

Ein Teil der linken, chavistischen Basis plant schon für eine Zeit nach der Regierung Maduro. Sie fühlen sich von der Parteispitze nicht vertreten. »Nicht alle Chavisten sind Mitglied in der PSUV, und der Chavismus ist nicht die PSUV«, schreibt einer von ihnen in einem der bedeutendsten Portal für linke Debatten in Venezuela.

Andere fragen, wann die Bevölkerung begreife, was Volksmacht bedeute, und wann die Linke anfange, sich unabhängig von der Regierung zu organisieren. Man müsse Momente wie die »Regierung der Straße« nutzen, um als wirkliche Volksmacht aufzutreten, sagt beispielsweise die linke Aktivistin R. Lemus. Gleichzeitig müsse man aber auch verhindern, dass die Rechte wieder an die Macht komme, denn nur unter einer linken Regierung könne man die Revolution vertiefen. »Einige Parteiführer denken nur an die Wahlstimmen, aber nicht an die Verteidigung der Revolution - das ist aber nicht unbedingt dasselbe«, erklärt ein anderer.

Viele sehen die Lösung in der Produktion, vor allem von Lebensmitteln. In jedem Viertel gibt es Gruppen, die beispielsweise Mais anbauen oder Kaninchen und Fische züchten. Kooperativen vom Land verkaufen auf selbstorganisierten Märkten in den Städten ihre Produkte. Gruppen, in denen Produkte getauscht werden, sprießen aus dem Boden. So suchen viele die Lösung des Großen im Kleinen - irgendwie gegen den Stillstand der Politik.

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