Eine Welt ohne Heimat
Ilse Aichinger zum 95.
Der Weg zur Weltreise war von Kaffeeduft begleitet. Wiener Kaffeeduft. Jahrelang hat die Schriftstellerin Ilse Aichinger das Café »Dehmel« zum Ort ihrer Expeditionen erhoben. Schrieb mitten im Öffentlichen, jeden Donnerstag, einen Text für die Zeitung »Der Standard«. Sie erschienen als Buch: »Unglaubwürdige Reisen«. Gedankliche Ausfahrten, die keiner anderen Beglaubigung bedurften als der Erinnerung ans 20. Jahrhundert, die sich mit der Fantasie gleichsam einen Kaffeehaustisch teilte. Wenn Kraft und Glanz des Feuilletons darin bestehen, dem vom Tagesgeschehen diktierten Stoff eine konsequent subjektive Sprachgestalt zu geben, sind Aichingers Arbeiten Bestprodukte der Sparte. Das Knappe ist nicht Reduktion, sondern Dichte.
Diese Schriftstellerin, 1921 in Wien geboren, hat das Schreiben als die ihre gemäße Form des Schweigens bezeichnet. In ihren Texten (»Eliza, Eliza«, »Kleist Moos, Fasane«, »Verschenkter Rat«, »Schlechte Wörter«, »Film und Verhängnis«) steht man immer wieder in den Jahren der Deportationen. Geboren als Tochter einer jüdischen Ärztin und eines nichtjüdischen Lehrers, der sich von der Familie trennte, überlebte Ilse Aichinger die Nazizeit in Wien. Die Großmutter und die jüngere Schwester der Mutter wurden verschleppt und ermordet. Im Gedicht »Alter Blick« wird die Dichterin schreiben: »... aber wer ist den Verlorenen nachgegangen/ durch das offene Gartentor?«
Wenn sie eines Friedenstages von ihrer Enkelin notiert, dass die »ihr großes Ziel jetzt schon erreichte: Sie kann im Stehen schaukeln«, dann ist das ein Satz über die Gnade fortlaufender Lebenszeit, in einem Text über jüdische Familien, deren Kindern so viel Zeit, das Schaukeln zu lernen, nicht vergönnt war. Stets schreibt die Aichinger das mit sphärensicherer Beiläufigkeit; aber die Härte vertreibt doch eine umdunkelte Anmut nicht. Und sie preist ihre Sehnsucht nach der Hochsee: »Das ist die einzige Sucht, die meiner zweiten Sucht, der nach dem Kino, gewachsen ist - eine Welt ohne Heimatort.«
Je hermetischer die Texte wurden, desto deutlicher offenbarte sich die Korrespondenz der Chiffren zu Paul Celans Gedichten. Waren wie dessen »Sprachgitter«. Bedrängende Zeichen leuchteten: Stern, Fenster, Schatten, Brücke, Spiele und Spiegel, oft gesprungen. Eines Tages heißt es: »Die Erinnerung splittert.« Aichinger, die mit Günter Eich verheiratet war, sagt: »Schreiben geht nicht über das Bewusstsein.« Wo das Bewusstsein beginnt, beginnt auch der lügende Mensch, ist die Wahrhaftigkeit also in Gefahr. Das Werk dieser Autorin, die Hörspiele und Erzählungen schrieb, liest die Partitur der Moderne spiegelverkehrt: Finsternis statt Aufklärung, Verzweiflung statt Glauben, Knechtschaft statt Freiheit. Die Welt ist alles, was Zerfall ist, aber freilich: In dieser Notizen- und Miniaturenprosa unterhält die weltabgewandte negierende Konsequenz doch eine heimliche Beziehung zum Guten, zur Güte. Die es zu selten gibt, um weltbildend zu werden. An diesem Dienstag wird Ilse Aichinger 95 Jahre alt.
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