Metrostation Stalingrad
Frank Castorf inszeniert an der Oper in Stuttgart Charles Gounods »Faust«
Allein schon Jossi Wielers Entschluss, den scheidenden Volksbühnenchef Frank Castorf (65) als Opernregisseur zu engagieren und ihm alles, was sein fabelhaft aufgestelltes Haus so zu bieten hat, für Charles Gounods »Faust« zu überlassen, macht Stuttgart tatsächlich zum »Opernhaus des Jahres«. Aber nicht, wie man meinen könnte, für besonderen Revoluzzer-Mut vor den Erwartungshaltungen des Opernpublikums. Sondern für den richtigen Instinkt, dass in Castorf eben auch ein nach wie vor überraschender und grandioser Theatermann steckt. Einer, der das Schauspielpublikum nicht nur mit den schier unendlichen Weiten traktieren kann, die in seine Dramatisierungen von Romanwälzern stecken. Sondern auch einer mit Gespür für die eigenen Zeitmaße der Oper, einer, der kein Problem damit hat, die vermeintlichen dramatischen Leerstellen zu füllen, die eine musikalische Schwelgerei à la Gounod so mit sich bringt.
Dass Castorf damit auskommt, nur das hinzuzufügen, was sowieso in einem Stück wie der französischen »Faust I«-Version von Gounod aus dem Jahr 1859 steckt, demonstriert er in Stuttgart mit geradezu meisterlicher Perfektion. Was freilich nur ein halb so großes Kunststück ist, wenn man einen Raum-Magier wie Aleksandar Denic an der Seite hat. Der setzt ein Erinnerungs- und Traum-Paris auf die Drehbühne, in dem jeder Paris-Liebhaber wiederfindet, was sein Herz begehrt oder was er an Paris-Feeling gerne hätte: die Wasserspender von Notre Dame, die Enge der Metrostationen, die straßenzugewandten Bistroplätze, dieses ganze Es-war-einmal-Paris zwischen schmalen Haustüren und weitschweifiger Federboa. Über einer mit Brettern vernagelten Schlachterei prangt ein rotes Ornament, das man bei näherem Hinsehen als gedoppelten Coca-Cola-Schriftzug enträtseln kann. Klar, dass der Teufel hier zur Walpurgisnacht lädt. Dass hinter den Gauben Margarethe und Frau Marthe ihre Zimmer haben und dass über den sprichwörtlichen Dächern von Paris genügend Platz für das Stelldichein in Frau Marthes Garten ist.
Dieses Paris imaginiert die Uraufführungszeit der Oper von 1859 und die des Algerienkrieges, die zwischen den »Paris leuchtet«-Stadtansichten von heute immer noch lebendig ist. Auch der Name der Metrostation Stalingrad, die in dieses Bühnenbildwunder integriert ist, gehört dazu. Dass der Schriftzug zum hurrapatriotischen Soldatenaufmarsch, der den blutigen Algerienkrieg heraufbeschwört, mit »Algerien ist französisch« blutrot übermalt wird, ist hier geradezu zwingend. Dabei wird die mit psychologischer Präzision erzählte Geschichte von zwei genusssüchtigen Flaneuren und der verführten jungen Frau, die die Zeche bezahlt, nicht überfrachtet oder konterkariert, sondern vertieft.
Diese Erzählung öffnet gleichsam eine weitere Dimension in dieser Paris-um-Mitternacht-Geschichte, musikalisch wunderbar getragen von Marc Soustrot am Pult des Orchesters. Und dargeboten von einem Ensemble, das sich vokal und darstellerisch geradezu idealtypisch in ein Gesamtkunstwerk fügt, wie dies nur selten gelingt. Mandy Fredrich ist eine wunderbar leuchtende Margarethe, Atalla Ayan ein smart geschmeidiger Faust, Adam Palka ein grandioser Mephistopheles. Und so geht das weiter bis zum letzten Choristen. Der Jubel traf auch Frank Castorf. Es klang wie: mehr davon!
Nächste Vorstellungen: 3., 6. November
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