Good morning, Kurdistan
Mit Erfolgsmeldungen über den Kampf um Mossul soll Optimismus verbreitet werden
Zum Frühstück zeigt das Fernsehen wieder Bilder der Zuversicht. Irakische Soldaten ziehen an jubelnden Dörflern vorbei in Ortschaften ein und in den Geschäften und Cafés von Erbil ist man sich sicher: Bald ist der Islamische Staat geschlagen und die Menschen kehren in ihre Häuser und in die Normalität zurück.
Auf den ersten Blick ist die Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan so ganz anders als der Rest Iraks. Während man in Bagdad ständig nach potenziellen Attentäter, und noch viel mehr als das nach kriminellen Banden Ausschau hält, ist Erbil im Laufe der vergangenen Jahre zu einer kleinen Metropole gewachsen, in der Sicherheit herrscht. Die irakisch-kurdische Wirtschaft boomte, Hochhäuser wurden gebaut, die Mittelschicht wuchs. Bis der Islamische Staat immer mehr Gebiete eroberte und die Region plötzlich eingepfercht war zwischen Iran und dem Machtgebiet des IS. Die Wirtschaft brach ein, plötzlich stieg die Armut, suchten Tausende Zuflucht. »Es war eine große Herausforderung, die Menschen unterzubringen, und wir haben das irgendwie gemeistert«, sagt Nihad Latif Qoja, Bürgermeister von Erbil. Doch nun seien schnelle Erfolge notwendig, denn die Stadt, die Region stießen an ihre Grenzen. Seit 2014 schon habe die Regierung in Bagdad die den Kurden zustehenden Gelder nicht mehr überwiesen, sagt ein Sprecher von Masud Barzani, dem Präsidenten der Region, man müsse also mit dem Geld auskommen, das man selbst einnehme, die Geflohenen und die steigende Zahl an einheimischen Obdachlosen versorgen.
Was deutlich wird: Die Peschmerga, eine Art kurdische Armee, kämpfen nicht nur zusammen mit der irakischen Armee und mehreren Milizen um Mossul, um den Islamischen Staat zu vertreiben. »Hoffentlich haben wir bald so wenig wie möglich mit Bagdad zu tun«, sagt ein Kommandeur der Peschmerga, während seine Soldaten an einem Kontrollposten an einer Straße Richtung Mossul die Papiere kontrollieren, in beide Richtungen. Eine Kolonne aus überladenen Autos, aus Fußgängern mit schwerem Gepäck bewegt sich in Richtung Erbil, und das, obwohl die Front mittlerweile 30 Kilometer weit von diesem Peschmerga-Posten entfernt liegt. »Sicher ist es da drüben trotzdem nicht«, sagt der Offizier.
Derweil wird im Radio gemeldet, die irakische Anti-Terror-Einheit CTS sei in Mossul angekommen, rücke auf das Zentrum; die Befreiung stehe nun kurz bevor. Die Stimme des Moderators überschlägt sich fast. Ein paar der Flüchtenden halten kurz inne; als die Stimme im Radio dann noch einmal euphorisch das Wort »Befreiung« wiederholt, schüttelt ein Mann den Kopf. »Die haben keine Ahnung, wie es wirklich ist«, sagt er, und erzählt, wie sich die Männer in seinem Dorf gegen die Dschihadisten auflehnten, als vor einigen Tagen Einheiten der irakischen Armee in Sichtweite des Ortes kamen. Zwei Stunden habe man gegen die IS-Leute gekämpft, einige getötet, den Rest vertrieben.
Doch heute hängt über der Ortschaft der Geruch verbrannten Öls, die Straßen sind leer. Kein Soldat, kein Milizionär ist hier, nur ein paar alte Leute. Ein Mann namens Mahmud zeigt einen Acker, dessen aufgewühlte Erde ein Grab erkennen lässt. 43 Nachbarn habe man hier beerdigt, sagt er, »junge Leute, der Jüngste war acht«. Denn statt des Militärs sei nach dem Aufstand der Islamische Staat zurückgekommen und habe Rache genommen.
Die Armee selbst zog zunächst weiter Richtung Mossul; die Vorgabe sei, die Zahl der direkten Auseinandersetzungen möglichst gering zu halten, sagen Sprecher des Verteidigungsministeriums in Bagdad, man wolle so vermeiden, dass Zivilisten zu Schaden kommen. Doch mittlerweile wird die Kritik lauter. »Es ist wirklich schlimm, das sagen zu müssen, aber durch das Nichteingreifen sterben mehr Menschen«, sagt Hassan al-Jasiri, Vorsitzender des Integritätsausschusses, einem ständigen Gremium des Parlaments. Andere Parlamentarier kritisieren, dass nicht effektiv gegen die Milizionäre vorgegangen werde: Sie zögen sich einfach ins Umland zurück, bis das Militär weg ist.
Gleichzeitig ist in der Region Kurdistan die Angst mittlerweile groß, dass sich IS-Kämpfer den Weg in kurdische Städte und Dörfer bahnen, durch Anschläge versuchen könnten, die Bevölkerung gegen die Beteiligung an der Offensive aufzubringen. »Wir müssen aufpassen, dass der Islamische Staat keinen Keil zwischen uns und die Flüchtenden treibt«, sagt Erbils Bürgermeister Qoja. Polizeichef Abdul Khaliq meint, man wolle auch deshalb, dass die Menschen in Flüchtlingslagern unterkommen, dort könne man sie besser überwachen.
Hier wie im Rest Iraks gerät man schnell in Verdacht, Sympathisant des IS zu sein; ein paar falsche Worte, und die Tatsache, dass man nicht von hier ist, reichen aus: In Läden, in Cafés, während Erfolgsmeldungen von der Front gesendet werden, bedrängen immer wieder Gruppen Fremde aus anderen Regionen. »Der Hass auf den IS und alle, die mit ihm in Verbindung stehen, sitzt sehr tief«, sagt Bürgermeister Qoja, »und wir haben noch keine Antwort auf die Frage, wie wir mit den Menschen und ihrem Gedankengut umgehen sollen.«
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