Gesichter totgeweihter Rotarmisten
Gedenkstätte Sachsenhausen zeigt 69 Fotos ermordeter sowjetischer Kriegsgefangener
Einzeln und in Gruppen machte die SS noch Fotos von den sowjetischen Kriegsgefangenen. Kurze Zeit später wurden sie in einer Baracke im KZ Sachsenhausen an eine Messlatte gestellt und durch ein Loch in der Wand per Genickschuss ermordet. Laute Marschmusik übertönte den Knall, um die wartenden Kameraden draußen in dem Glauben zu lassen, sie würden hier nur untersucht.
30 SS-Leute beteiligten sich zwischen dem 31. August und dem 15. November 1941 an der Erschießung von mehr als 10 000 Kriegsgefangenen. Nur einige wenige wurden nach der Befreiung vom Faschismus vor Gericht gestellt und kamen mit geringen Strafen davon. Bloß der besonders grausame, psychopathische SS-Oberscharführer Wilhelm Schubert erhielt eine lebenslange Haftstrafe. An diesem Sonntag um 16 Uhr eröffnet die Gedenkstätte Sachsenhausen eine Sonderausstellung, in der erstmals alle 69 Fotos von den Opfern zusammen gezeigt werden. Zwei tschechische Häftlinge schmuggelten mutig die Negativkopien aus dem KZ. Es sind die einzigen Bildzeugnisse von diesem Verbrechen. Die Originale lagern in Archiven in Prag und Brno. Groß gedruckt auf einen durchscheinenden Stoff, dominieren sie nun einen langgestreckten Raum im Neuen Museum. Dazu illustrieren Texte und Dokumente die Hintergründe.
Die Faschisten planten, 30 Millionen Bürger der Sowjetunion umbringen, um die russischen Weiten beherrschen zu können. Tatsächlich sorgte der Vernichtungsfeldzug für 27 Millionen Tote. Die Wehrmacht machte drei Millionen Kriegsgefangene. Politoffiziere, Kommunisten, Intelligenzler und Juden wurden eigentlich sofort erschossen, auch Muslime aus Zentralasien, weil sie wie jüdische Männer beschnitten waren - und kein Jude sollte entkommen. Aber einige Soldaten aus diesen Gruppen und Schichten entgingen der sofortigen Ermordung. Die Gestapo durchkämmte die Gefangenenlager nach ihnen und die Wehrmacht überstellte die etwa 40 000 Opfer dann in Konzentrationslager. Daher auch der Name der Sonderausstellung. Titelgebend ist die damalige Anweisung: »Die Exekutionen müssen unauffällig im nächstgelegenen Konzentrationslager durchgeführt werden.«
Die Nazis verwendete einzelne der 69 Aufnahmen in Propagandaschriften, in denen sie die Rotarmisten als slawische Untermenschen vorführen wollten. Anders als beabsichtigt erwecken die Bilder beim Betrachter jedoch keine Abscheu, sagt Gedenkstättenleiter Günter Morsch. »Die Gesichter der wenig später rücksichtslos ermordeten Menschen erregen vielmehr Anteilnahme und Mitgefühl. Abscheu und Verachtung dagegen gelten den Mördern un d ihrer menschenverachtenden Ideologie.«
Morsch bedauert, dass die Ermordung der Kriegsgefangenen im öffentlichen Bewusstsein neben dem Holocaust kaum wahrgenommen werde, obwohl beide Verbrechen wie »kommunizierende Röhren« zusammenhängen. So ist das in den Gaskammern von Auschwitz verwendete Zyklon B dort zunächst an sowjetischen Soldaten ausprobiert worden. Morsch wünscht sich für die Opfer ein Denkzeichen in Berlin und hofft, dass es dazu noch vor der Wahl 2017 einen Beschluss im Kulturausschuss des Bundestags geben wird.
Die rund 150 Gefangenen auf den 69 Fotos sind bislang nicht identifiziert. Überhaupt sind lediglich 200 Namen von in Sachsenhausen erschossenen Kriegsgefangenen ins Totenbuch des Lagers eingetragen. Es gibt ein deutsch-russisches Forschungsprojekt, das aber wegen der Ukrainekrise und der daraus folgenden Spannungen in den politischen Beziehungen ins Stocken geriet. Glücklicherweise sei es nun wieder angelaufen, freut sich Morsch.
Gedenkstätte Sachsenhausen, Straße der Nationen 22 in Oranienburg, bis 18. Juni, Di. bis So. von 8.30 bis 16.30 Uhr, ab 15. März täglich bis 18 Uhr
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