Die Furcht vor dem Nader-Effekt
Wohl oder übel: Die Hälfte der US-Linken wird für die »Krieg-, Wall Street- und Walmart«-Kandidatin Clinton stimmen
Die Hälfte wählt Hillary Clinton, ein Drittel stimmt für Jill Stein, jede(r) Dreizehnte schreibt den Namen von Bernie Sanders auf den Stimmzettel. So sieht das Wahlverhalten der amerikanischen Linken laut einer Leserumfrage der unabhängigen progressiven Webseite Commondreams aus. Dass die Plattform glaubwürdig ist und ein breites Spektrum von sozialdemokratisch bis radikal links abdeckt, stellt sie seit ihrer Gründung 1997 unter Beweis. Am Wochenende hatten auf Anfrage von Commondreams über 10 000 Leser aus den USA neben Wünschen für die weitere Berichterstattung auch ihre Wahlpräferenzen bekannt gegeben.
Im Vergleich zur selben Commondreams-Umfrage vom September ist Clinton bei US-Linken mit 50 Prozent weiter vorne. Die Präsidentschaftskandidatin der US-amerikanischen Grünen, Jill Stein, bleibt bei rund 36 Prozent. Nur noch sieben Prozent (13 Prozent im September) wollen den Namen von Bernie Sanders auf den Wahlzettel schreiben.
Der Umfrage zufolge ist eine »taktische« Wahl für Donald Trump, von dessen Präsidentschaft sich manche nichtamerikanische Linke wie der Philosoph Slavoj Žižek eine Implosion des US-Imperiums erhoffen, für progressive US-Bürger ausgeschlossen. 1,3 Prozent werden für Trump stimmen, 0,4 Prozent für den libertären Marktfundamentalisten Gary Johnson.
Nicht nur auf Commondreams, sondern auch in der größten linken USA-Wochenzeitschrift »The Nation«, im weit verbreiteten Radio- und TV-Programm »Democracy Now« von Amy Goodman und auf zahlreichen anderen Plattformen wurden seit Monaten Diskussionen über linke Optionen bei den Präsidentschaftswahlen geführt. Ist die Demokratische Partei auf massiven Druck nach links hin reformierbar oder funktioniert sie nach der Staubsaugermethode, die linkes Potenzial einfach einfängt und dann verschwinden lässt? Ist die Zeit des »Wählens für das kleinere Übel« vorbei und eine dritte Partei mit linken Inhalten in greifbarer Nähe - oder ist eine Stimme für die Grünen eine vergeudete Stimme?
Als sich Bernie Sanders seit dem Frühjahr innerhalb der Demokratischen Partei zur progressiven Alternative gegen die Kandidatin von »war, Wall Street and Walmart« aufschwang, konnte er auf die Unterstützung fast aller Linken zählen. Mit ihrer Hilfe erzielte er landesweit bei den Vorwahlen insgesamt 13 Millionen Stimmen. Sanders sagte schon damals, er halte eine unabhängige Kandidatur außerhalb der Demokratischen Partei oder das Auftreten als Grüner in einem Präsidentschaftswahlkampf für einen grundsätzlichen Fehler. Die USA mit ihrem Zweiparteiensystem, dem »winner-takes-it-all«-Mehrheitswahlrecht und der Hürde von 270 nötigen Wahlmännerstimmen, um die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, schließe eine Drittkandidatur aus. Immer wieder zählte Sanders »den Fehler« des Präsidentschaftskandidaten und Verbraucheranwalts Ralph Nader von 2000 auf, der als »Zünglein an der Waage« progressive Stimmen angezogen und damit die denkbar knappe Niederlage des Demokraten Al Gore gegen den Republikaner George Bush mit ermöglicht habe. Letztendlich handele es sich in den USA auch nicht um eine parlamentarische Demokratie wie in Westeuropa, wo Vertreter unterschiedlichster Parteien in die Volksvertretung gewählt werden, wo sie Bündnisse und eine Regierung bilden.
Als »Ideologie des kleineren Übels« bezeichnet die Grüne Jill Stein diese Sichtweise. Auf ihren Wahlkampfveranstaltungen argumentierte sie regelmäßig gegen eine »Negativwahl«, das heißt gegen eine Niemals-Trump-Wahl, und stattdessen für eine »Wahl zugunsten von etwas«. In einem nd-Gespräch im Mai hatte Stein die Möglichkeit, eine Wahl für sie könne bei einem knappen Wahlstand erneut einen Nader-Effekt herstellen, mit dem Hinweis bejaht, manchmal sei »die zeitweise Verschlechterung der Situation der Aufrechterhaltung des Status Quo vorzuziehen«. Gleichzeitig spielte Stein die innen- und außenpolitischen Unterschiede zwischen Clinton und Trump nicht nur herunter, sondern setzte Demokraten und Republikaner gleich. Hatte sie im Mai auf die Frage, wie viele Wähler sie ihrer Meinung nach wählen würden, »zwischen fünf und 50 Prozent« geantwortet, so schraubte sie am vergangenen Donnerstag bei einer Wahlkampfveranstaltung in New Jersey die Erwartungshaltung weit nach unten. Das Ziel sei fünf Prozent. Dass ihr die Umfragen nur zwei Prozent voraussagen, tat sie gegenüber »nd« als »unglaubwürdig« ab.
Dass das Scheitern einer linken Option als Drittpartei erneut absehbar ist, garantiert allerdings nicht den Erfolg der Strategie Sanders’, innerhalb der Demokratischen Partei für Reformen zu sorgen. Ralph Nader, der die Sanders-Rebellion anfangs mit großen Sympathien begleitete, wunderte sich darüber, dass der Senator aus Vermont seit seiner Unterstützungserklärung »seine eigene Bewegung ignoriert«. Naders Befürchtung: Die meisten würden Clinton wählen, andere die Grünen, »einige gar nicht und sich dem Zynismus hingeben« - die »Feel-the Bern«-Bewegung befinde sich in einem Zerfallsprozess.
Den Beweis für das Gegenteil wollen Teile des Sanders-Lagers eine Woche nach den Wahlen in der Hauptstadt Washington antreten: mit einer ersten Demonstration gegen das Freihandelsabkommen TPP (Transpazifische Partnerschaft). Dabei hegen die Aktivisten die Hoffnung, dass sie Unterstützung aus dem Kongress von frisch gewählten progressiven Senatoren und Abgeordneten erhalten, auch von Bernie Sanders.
Linke Zwischentöne zwischen der Drittparteienoption und dem Kreuzchenmachen für Clinton schlug schon vor Monaten Noam Chomsky an. In Bundesstaaten mit einer deutlichen Mehrheit für Clinton würde er eine Drittkandidatin wie Stein wählen, in »swing states« für Clinton »mit zugehaltener Nase«, um Trump auf jeden Fall zu verhindern. Bei dieser Art von strategischem Wählen ist erstmals die neue App »NeverTrump« behilflich. Damit können linke Wähler über die Einzelstaatsgrenzen hinweg ihre Stimmen nach dem Vertrauensprinzip »tauschen«.
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