Gescholtener
Andreas Reimann 70
Man liest die frühen Gedichte mit Staunen: Andreas Reimann hat als fertiger Dichter begonnen. Gerade ist Band 1 seiner Werkausgabe als Gabe zum 70. Geburtstag erschienen. Es wechseln Hymne und Elegie, Großformen der Lyrik - und das verfasst von einem Achtzehnjährigen und Jüngeren! Als Antwort auf eine noch weit frühere Veröffentlichung ging Anfang der sechziger Jahre im »Neuen Deutschland«, ein Sperrfeuer von bestellten Briefen auf das junge Genie nieder. Die Briefschreiber wollten ihm DDR-gutes Deutsch beibringen und am liebsten zum Nachdenken in die Produktion schicken. Letztes erfüllte sich leider. Auch, dass das wahre Talent oft missverstanden wird.
Reimann bedichtete nicht den Alltag, nicht den hellen Morgen. Der Band beginnt mit einer »Hymne vom Fahren« und diese mit dem Vers: »Land, laß mich fahrn, daß ich erfahr, was land heißt!« Zwar lautet der Vers später im Gedicht: »Doch will ich fahrn, um hierzusein«, aber nach dem Mauerbau war am Thema Reisen nicht zu rühren. Die Berufs-Dialektiker verstanden Reimanns Dialektik richtig, aber durften sie nicht durchgehen lassen. Sie ahnten, dass hier ein Dichter spricht: »Fremd zog ich einst von ort zu ort und bliebs im heer der diversanten.« Und ließen ihn nicht Dichter sein.
Andreas Reimann nennt mit 18 Jahren den Dichter einen Fremden, den einzig das Heer der Diversanten aufnimmt. Diversanten? Das sind doch die feindlichen Agenten und Störer! Damit war das Schicksal seines ersten Gedichtbands besiegelt. Ein Störer blieb er, als er 1974 in der Akademie-Zeitschrift »Sinn und Form« der Lyrik seiner Altersgefährten die Leviten las: »Festzustellen ist der Niedergang des Formbewußtseins in einem Grade, daß es bedenklich erscheint, noch auf dem Gattungsbegriff zu beharren.« - Was sich der 28-Jährige wagte, stand ihm zu. Er konnte mit Ode, Hymne, Elegie und Sonett umgehen. Reimann schrieb sein erstes Gedichte mit elf Jahren und - als er seitdem nicht mehr davon lassen konnte - galt er als »Wunderkind«.
Reimann selbst ergänzt die Erklärung mit den frühen Jahren im Kinderheim, in das er nach dem Tod der Eltern eingewiesen wurde: Gedichte wurden sein Weg, die Seele zu schützen. Hölderlin, Droste-Hülshoff, Rilke, aber auch Benn, Becher, Brecht, alles nahm er sich und spielte deren Formen durch. Als seine frühen Texte den Leipziger Lyrikprofessor Georg Maurer erreichten, lud der ihn ins Becher-Institut zum Literaturstudium ein. So hätte ein Dichter in die Öffentlichkeit starten können, wären da nicht die Briefe der Leser im »Neuen Deutschland« gewesen.
Reimann blieb bei seiner Sicht der Dinge, verlor seinen Studienplatz, verlor die Zusage auf den ersten Gedichtband »Kontradiktionen«. Dass er jetzt als Band 1 seiner von Verleger Peter Hinke in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung in Leipzig begonnenen Werkausgabe erscheint, ist eine Verbeugung vor einem großen deutschen Dichter an seinem 70. Geburtstag!
Andreas Reimann: Kontradiktionen - Gedichte zwischen 1964 und 1966. Connewitzer Verlagsbuchhandlung. 160 S., geb., 20 €.
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