»Ich bin in der Hölle erwachsen geworden«

Rafael Seligmann hat die Geschichte des Shoah-Überlebenden Shlomo Birnbaum aufgeschrieben

  • Horst Helas
  • Lesedauer: 3 Min.

Vorweg sei gesagt: Dieses Buch sollte in allen deutschen Schulen Pflichtlektüre sein. Beim Lesen des Erinnerungsberichts von Shlomo Birnbaum haken sich Sätze fest wie: »Ich kann nicht vergessen und ich will nicht vergeben - weil ich das als Überlebender nicht darf.« Und: »Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen war meine Kindheit zu Ende. Danach bin ich im Gehonem, in der Hölle erwachsen geworden.« Oder: »Das Leben ist gut und einfach, wenn man eine anständige Haltung hat.«

Shlomo Birnbaum hat Rafael Seligmann seine Geschichte erzählt. Es ist die Geschichte einer jüdischen Familie, die einmal in Tschenstochau (polnisch: Częstochowa) zu Hause war. Die Darstellung der Lebensabschnitte dieser Familie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird verknüpft mit der Vermittlung grundsätzlicher historischer Fakten, vor allem zur Situation »der Juden« in Deutschland und Europa. Zugleich erfährt der Leser viel von den Gewohnheiten und Gebräuchen sowie den Alltag einer jüdischen Familie. Man lernt jiddische Worte kennen und wird über deren Ursprung aufgeklärt. »Mischpoke« zum Beispiel enthält im Judentum eine positive und nicht die abwertende Bedeutung wie in der deutschen Umgangssprache.

Nach dem heimtückischen Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen im September 1939 wird die Familie Birnbaum ins Ghetto deportiert. Angst und Verzweiflung bestimmen nun den Alltag. Es kommt noch schlimmer. Die Familie wird auseinandergerissen. Birnbaum berichtet: »Ich habe erlebt, wie meine Mutter in den Tod geschickt wurde, wie meine Brüder und Schwestern umgebracht wurden. Ich konnte nicht mehr glauben. Wo war Gott?«

Zusammen mit seinem Vater Arie, der ihn immer wieder aus den Fängen der deutschen Judenmörder zu entreißen versteht, überlebt Shlomo den Holocaust. Nach der Befreiung vom Faschismus sehen sich beide erneut mit Judenhass konfrontiert - diesmal von Seiten der Polen.

Shlomo Birnbaum und sein Vater fliehen schließlich in das Land, in das sie nie einen Fuß setzen wollten - ins Land der Mörder, nach Deutschland. In München gründet Shlomo eine Familie, wird Unternehmer und Vater von vier Kindern. Verständlich wird in diesem Buch auch eindrucksvoll, warum der Staat Israel eine besondere Rolle im Leben von Juden heute spielt, egal wo sie nach 1945 einen Neuanfang gewagt hatten und egal wo sie heute leben und arbeiten.

Rafael Seligmann und Shlomo Birnbaum verdanken wir ein in vieler Hinsicht ungewöhnliches Buch. Bleibt die Empfehlung an alle historisch Interessierte, dieses Zeitzeugnis zu lesen und selbst weiterzuempfehlen.

Rafael Seligmann/Shlomo Birnbaum: Ein Stein auf meinem Herzen. Vom Überleben des Holocaust und dem Weiterleben in Deutschland. Herder, Freiburg 2016. 176 S., geb., 19,99 €.

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