Immer wieder Mossul
Streifzug durch die Geschichte einer alten Stadt. Von Oliver Eberhardt
Deutlich sichtbar stehen die Panzer an der Grenze, hinter einem niedrigen Zaun und Schildern, die militärisches Sperrgebiet verkünden; die Kanonenrohre sind in Richtung Irak ausgerichtet. Auf der anderen Seite warten ein paar irakische Soldaten und Journalisten, die darüber diskutieren, ob die Türkei nun einmarschieren wird oder nicht. Oft geht es in den Gesprächen um Realpolitik: strategische Interessen, die Abwehr des Islamischen Staates oder um die kurdische Arbeiterpartei PKK, die seit Jahrzehnten Krieg gegen das türkische Militär führt. Die Realität jedoch ist sehr viel komplexer. Geopolitische Ambitionen der verschiedensten Konfliktparteien in der Region kreuzen sich im Kampf um Mossul und verknüpfen sich mit gesellschaftlichen Emotionen und Bestrebungen nach politischer Legitimation, die ihren Ursprung in der Geschichte von Stadt und Land haben.
In den regierungsnahen türkischen Medien werden der Berichterstattung über den Vormarsch der von schiitischen Milizen unterstützten irakischen Truppen auf die Stadt zur Zeit oft Landkarten zur Seite gestellt. Mossul und die irakische Stadt Kirkuk erscheinen hier als Teil der Türkei; auch das syrische Aleppo wird von den Grafikern dem türkischen Staatsgebiet einverleibt. In einer von Präsident Recep Tayyib Erdogan nahezu gleichgeschalteten Presse verwundern solche Karten nicht. Und das macht der irakischen Regierung in Bagdad Sorgen: »Die türkische Regierung will die Geschichte umschreiben«, sagt ein Sprecher von Regierungschef Haider al Abadi. »Mossul war immer türkisch, bevor es der Türkei gestohlen wurde«, wird indes aus dem Büro Erdogans mitgeteilt.
Seinen Ursprung hat der Streit in der bewegten Geschichte der Region um Mossul: Ungefähr 850 vor Christus vom assyrischen König Asurnasipal II gegründet, war die Stadt für mehr als 3000 Jahre der wichtigste Brückenkopf über den Tigris auf dem Weg von Syrien nach Iran und in die (heutige) Türkei. Araber und Türken kämpften um die Hoheit über die altehrwürdige Stadt; im Laufe der Zeit siedelten sich dort neben Arabern, Kurden und Turkmenen noch eine Vielzahl kleinerer Minderheiten an.
Nachdem das assyrische Königreich im 6. Jahrhundert vor Christus zerfallen war, wechselten die Herrscher ständig. Die Region blieb aufgrund ihrer strategischen und wirtschaftlichen Lage ebenso heiß umkämpft wie sie florierte. Im 9. Jahrhundert nach Christus übernahmen dann der türkische Feldherr Ischak Ibn Kundadschik und sein Sohn für einige Jahre die Herrschaft über Mossul, bevor die Region erneut von mehreren arabischen Dynastien regiert wurde. Im 11. Jahrhundert folgten für wenige Jahrzehnte die Seldschuken, die ihren Ursprung in einem türkischen Stamm in Zentralasien hatten. Im 13. Jahrhundert fielen die Mongolen in das Gebiet ein und hielten es, bis im 15. Jahrhundert die Osmanen vor Mossul erschienen. Endgültig erobert wurde die Stadt von ihnen 1538. Nachdem sie 1638 auch Bagdad unter ihre Kontrolle brachten, beherrschten die Osmanen bis Anfang des 20. Jahrhunderts fast das komplette Mesopotamien, neben Irak und Kuwait auch Teile Syriens.
Im Umfeld der heutigen türkischen Regierung werden diese Jahrhunderte als eine Phase dargestellt, in der in einer ansonsten stets unruhigen Region endlich Frieden und Wohlstand herrschten und eine enge, gedeihliche Bindung an Istanbul bestand. Tatsächlich orientierten sich die osmanischen Herrscher mehr auf das heutige Syrien und Iran, Gebiete, mit denen man regen Handel trieb. Das Osmanische Reich war in Irak bis ins 19. Jahrhundert hinein großteils nur militärisch vertreten; und in Mossul regierten weitgehend autonome Dynastien. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde im Zuge von Reformbemühungen eine osmanische Verwaltung in der Region aufgebaut.
Am 3. November 1918 marschierten britische Truppen in Mossul ein; das gesamte Gebiet des heutigen Irak geriet unter die militärischen Kontrolle des Empires. In der Folgezeit brachen seit Jahrhunderten schwelende Konflikte zwischen den diversen Bevölkerungsgruppen auf, die auch durch die Weigerung der als ein neuer Staat entstehenden Türkei befeuert wurden, die britische Besatzung Mossuls anzuerkennen: Die Truppen seien dort unrechtsmäßig nach dem Waffenstillstand von Moudros vom 30. Oktober 1918 einmarschiert.
Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hatten zunächst die Kurden Ansprüche auf eine Eigenstaatlichkeit in der Region angemeldet. Großbritannien unterstützte diese Bestrebungen anfangs offiziell, weil es sich erwies, dass vor allem der Norden des heutigen Irak sich schwer kontrollieren ließ. Insbesondere in Mossul kam es zu Revolten gegen die Besatzer, die sich daher um die Unterstützung örtlicher Interessengruppen bemühen mussten und allen alles versprachen, was den Aufruhr allerdings nur noch weiter anfachte. So hatte London beispielsweise die jahrhundertelang gültigen Vorschriften für den Besitz von Landeigentum verändert und damit den Eindruck erweckt, es würde eine bestimmte Bevölkerungsgruppe begünstigt. Nachdem Großbritannien dann auch die Führungsebenen in den Verwaltungen im heutigen Irak mit Briten besetzte, vereinigten sich die zerstrittenen Gesellschaftsgruppen für kurze Zeit zu einer Revolte. Die Briten setzten daraufhin 1921, gebilligt vom Völkerbund, König Faisal I. als Regenten des »Königreichs Irak unter britischer Verwaltung« ein. Damit war der Staat in seinen heutigen Grenzen geboren. Doch der Streit um Mossul ging weiter.
Im Friedensvertrag von Lausanne zwischen der Türkei und Großbritannien wurde die Mossul-Frage 1923 offengelassen. In der Folgezeit griffen türkische Einheiten zusammen mit kurdischen Milizen, deren Unabhängigkeitsbestrebungen einen Rückschlag erlitten hatten, immer wieder britische Stellungen rund um Mossul an. 1926 sprach der Völkerbund die Stadt und ihre Umgebung Irak zu. Die Türkei akzeptierte diesmal die Entscheidung - allerdings für eine Gegenleistung: Irak verpflichtete sich, für 25 Jahre einen Teil der Öleinnahmen aus der Region um Mossul an die Türkei zu zahlen.
Damit ruhte der Streit für einige Jahrzehnte. Doch mit Erdogan hat in der Politik und im öffentlichen Bewusstsein der Türkei sich die Behauptung festgesetzt, man sei seinerzeit übertölpelt worden, die türkische Regierung habe in den 1920er Jahren Filetstücke aufgegeben. Verbunden ist diese Ansicht mit dem Vorwurf an die Bagdader Adresse, Irak habe nach der Erlangung der Unabhängigkeit 1932 die Ölzusage nur teilweise eingehalten.
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