Tausende sitzen in der Todeszelle
Erdogan hatte Aufhebung des Todesurteils gegen den Ex-Präsidenten Ägyptens zur Hauptbedingung für Annäherung gemacht / Streit um Al-Dschasira-Interview
»Wir sind ein Rechtsstaat«, sagte Ahmed Abu Zeid, Sprecher des ägyptischen Außenministeriums am Mittwoch. Während er das sagte, wurde in einem Gericht in der südägyptischen Stadt Al-Minya verhandelt. Angeklagt waren 613 Personen gleichzeitig. Die Anklage: Mord. Die Beweise: So dürftig, dass der Ankläger sechs Minuten brauchte, um sie vorzutragen. Am Ende stand ein Massenurteil: Diejenigen der 613 Angeklagten, die bereits inhaftiert sind, werden sich nun in der Todeszelle wiederfinden.
Es war einer von vielen Massenprozessen: »Man klagt möglichst viele gleichzeitig an, kümmert sich nicht um Beweise, und am Ende gibt es dann drastische Strafen«, sagt der Strafverteidiger Hussein Ismail. Die Angeklagten sind meist politische Aktivisten, sowohl aus dem säkularen Spektrum als auch aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft; selbst viele derjenigen, die im Juli 2013 die Massenproteste gegen den damaligen Präsidenten Mohammad Mursi organisierten, die dann zur Machtübernahme von Abdelfattah al-Sisi, damals Generalstabschef, führten, wurden im Laufe der vergangenen Jahre vor Gericht gestellt.
In so gut wie allen Fällen werden die Urteile vom Obersten Gerichtshof bestätigt, offiziell werden aber nur wenige Todesurteile vollstreckt: Laut Amnesty International starben 2015 22 Menschen am Galgen. Vollstreckungen werden aber nur selten offiziell bekannt gegeben; die tatsächliche Zahl dürfte also höher sein.
Dass der Oberste Gerichtshof nun ein paar dieser Urteile aufgehoben, und neue Prozesse angeordnet habe, ist aus Sicht von Anwalt Ismail kein Beleg für einen funktionierenden Rechtsstaat, sondern vielmehr ein »politischer Schritt«.
Denn bei jenen, die nun zumindest eine neue Chance vor Gericht bekommen, handelt es sich um Mursi, sowie um Mohammad Badie, einst Chef der Muslimbruderschaft, sowie mehrere weitere Topfunktionäre der einflussreichen sunnitisch-islamistischen Bewegung.
Frei kommen werden die Betroffenen nun nicht; sie wurden in mehreren separaten Prozessen zu mehreren langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, die bereits vom Obersten Gerichtshof bestätigt wurden. Wegen eines Gefängnisausbruches am Ende der Amtszeit Hosni Mubaraks wurde Mursi zudem zum Tode verurteilt; gegen Badie und die anderen Funktionäre der Muslimbruderschaft fielen Todesurteile im Zusammenhang mit Ausschreitungen im Sommer 2013.
Die Aufhebung der Urteile hatte sich schon seit dem Sommer abgezeichnet. Denn Ägyptens Regierung, die zurzeit gegen eine schwere Wirtschaftskrise ankämpft, und durch Kredite des Internationalen Währungsfonds überlebt, würde gerne die Beziehungen zur Türkei normalisieren. Doch der dortige Präsident Recep Tayyip Erdogan machte die Aufhebung der Todesurteile gegen Mursi und Badie zu einer Hauptbedingung; kurz nach Bekanntgabe der Gerichtsentscheidung wurde der türkische Botschafter in Kairo im Präsidialamt empfangen. Lächelnd gab man sich vor der Presse die Hand.
Doch die Eintracht währte nur kurz: Am Dienstag beschuldigte Erdogan in einem Interview die ägyptische Regierung, Anhängern der Gülen-Bewegung Unterschlupf zu gewähren. Außenamtssprecher Abu Zeid warf Ankara daraufhin »Doppelmoral« vor: Die Türkei unterstütze die Muslimbruderschaft. Zudem würden dort »kontinuierlich die Menschenrechte verletzt«, weshalb eine Auslieferung von türkischen Staatsbürgern nicht in Frage komme.
Gleichzeitig geriet damit auch der Nachrichtensender Al-Dschasira wieder ins Visier der ägyptischen Regierung: Der Sender wolle Ägypten destabilisieren, indem er das Interview mit Erdogan ausstrahlte.
Im Dezember 2013 waren mehrere Reporter des Senders fest genommen und später wegen des Vorwurfs »Verbreitung falscher Nachrichten« zu Haftstrafen von zwischen drei und fünf Jahren verurteilt worden. 2015 wurde dann der australische Journalist Peter Greste ausgewiesen. Zwei weitere Beschuldigte wurden begnadigt. Nun wurden wieder Al-Dschasira-Reporter auf die Fahndungsliste gesetzt.
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