Meine Kalaschnikow verlieh mir Macht
In der Zentralafrikanischen Republik machte der Bürgerkrieg aus Tausenden Kindern Mörder – trotz UN-Konventionen
Im zweitärmsten Land der Welt herrscht ein brüchiger Friede: Besonders die Kinder leiden in der Zentralafrikanischen Republik. Im Bürgerkrieg wurden viele zum Töten gezwungen, andere kämpften freiwillig, um ihre getöteten Eltern zu rächen. Der Krieg raubte den Jungen und Mädchen ihre Kindheit und könnte ihre Zukunft zerstören. Denn viele ehemalige Kindersoldaten werden einfach alleine gelassen. Viele könnten sich deshalb wieder bewaffneten Banden anschließen.
»Ich habe Menschen getötet. Viele Menschen. Ich weiß nicht, wie viele. Ich weiß nur, dass ich schwere Schuld auf mich geladen habe.« Als Ibrahim* mit 14 Jahren das erste Mal auf einen Menschen schoss, dachte er, dass er für seinen Gott kämpfe. Als er seine Kalaschnikow zweieinhalb Jahre später niederlegte, hoffte er, dass sein Gott ihm vergeben würde. Wie Tausende andere Minderjährige war er Kindersoldat im Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik. Ein Kind als Opfer, ein Kind als Täter.
Am 20. November ist Internationaler Tag der Kinderrechte. Die Vereinten Nationen haben an diesem Tag im Jahr 1959 die Erklärung der Kinderrechte und im Jahr 1989 die Konvention der Kinderrechte beschlossen. Die Konventionen fordern ausdrücklich das Verbot der Rekrutierung Minderjähriger.
Jeder Mensch unter 18 Jahren erhielt damit verbriefte Rechte - darunter das Recht auf Überleben, auf Bildung, auf Schutz vor Missbrauch und Gewalt, aber auch das Recht, an Entscheidungen beteiligt zu werden. Die Kinderrechtskonvention hat den Grundstein für eine kinderfreundlichere Welt gelegt. Keine andere internationale Konvention hat so große Unterstützung erhalten - alle Staaten mit Ausnahme von Somalia, Südsudan und den USA haben die Konvention ratifiziert. nd
Ibrahim war zu Hause, als Kämpfer der christlichen Anti-Balaka-Miliz auf den kleinen Hof seiner Familie stürmten, seinem Vater vor seinen Augen die Kehle durchschnitten und das Haus niederbrannten. Wenige Monate zuvor hatten Mitglieder des muslimischen Seleka-Bündnisses in der 300 Kilometer südlich gelegenen Hauptstadt Bangui den christlichen Präsidenten Bozizé gestürzt. Daraufhin bildete sich die christliche Anti-Balaka-Miliz, die sich den Rebellen entgegenstellte. Im anschließenden Bürgerkrieg wurden Tausende getötet, Millionen mussten ihre Heimat verlassen.
Auch Ibrahim floh mit seiner Mutter, seinem jüngeren Bruder und seiner Tante in den muslimischen Tschad. »Meine Mutter ist dort vor Trauer verrückt geworden«, berichtet Ibrahim. Er selbst wollte nicht nur um seinen Vater trauern, er wollte ihn rächen, er wollte die Mörder seines Vaters töten. Also kehrte er gegen den Willen seiner Mutter heimlich in seine Heimat zurück und schloss sich den Kämpfern der Seleka an.
Nach einem kurzen Training an der Kalaschnikow tötete Ibrahim sein erstes Opfer. »Wir mussten unseren Glauben und unsere Moscheen verteidigen. Außerdem hätten die Christen mich umgebracht, hätte ich mich nicht der Seleka angeschlossen. Ich hatte keine Wahl«, rechtfertigt er heute seine Taten. Viele Kinder sahen das offensichtlich ähnlich. Mit seinen 14 Jahren war er nicht der Jüngste in seinem Bataillon. Rund 150 Jungen, Mädchen, Frauen und Männer kämpften in der Einheit. Wie viele andere Kinder auch, wurde Ibrahim oft an vorderster Front eingesetzt, verwundet wurde er nie.
»Ich war ein guter Soldat«, sagt Ibrahim. Als er im Schatten eines Baumes in Bangui von den schrecklichen Verbrechen berichtet, die er selbst begangen hat und deren Opfer er geworden ist, mahlen seine Kiefer nervös, laut lässt er die Gelenke seiner schlanken Finger knacken. Von seiner eigenen Vergangenheit zu erzählen, quält ihn. Nur als er sagt, dass er ein guter Soldat war, lächelt er kurz. Auch wenn er es nicht zugeben will, macht es den muskulösen Jugendlichen noch heute stolz, dass er im Krieg als unverwundbar galt.
Ibrahim glaubt, dass sein Grigri ihn während der Kämpfe beschützte. Das Totem mit dem von einem Marabout, einem islamischen Geistlichen, in eine bestickte Kuhhaut eingenähten Pulver hatte sein Vater ihm kurz vor seinem Tod geschenkt. Während der Kämpfe trug Ibrahim es am Oberarm. So erinnerte es ihn stets daran, dass er tötete, um seinen Vater zu rächen.
»Bevor wir in die Schlacht zogen, haben unsere Vorgesetzten uns rote und grüne Pillen aus Nigeria und Marihuana und Alkohol gegeben. Gegen die Angst. Ich brauchte aber keine Drogen. Ich hatte mein Grigri. Außerdem habe ich vor jedem Kampf gebetet, dass Gott mich in sein Paradies aufnimmt, falls ich doch getroffen werden sollte«, berichtet Ibrahim. Während der Gefechte im Norden der Zentralafrikanischen Republik, sah er viele seiner Kameraden sterben. Manche waren jünger als er, manche waren enge Freunde. »Im Krieg ist der Tod normal. Allah hat sie zu sich gerufen«, sagt Ibrahim und es soll stärker klingen, als es tatsächlich klingt.
Mehrmals dachte er daran, einfach davon zu laufen, versucht hat er es nie. Zum einen wusste er, dass auf Fahnenflucht der Tod stand, zum anderen hätte er nicht gewusst, wie er alleine hätte überleben sollen. »Meine Vorgesetzten haben mir immer Essen und Trinken gegeben, und meine Kameraden haben mich beschützt«, sagt der ehemalige Soldat.
Trotzdem entschloss er sich vor einigen Monaten, nicht weiter zu kämpfen. »Nachdem ein Waffenstillstand geschlossen worden war, musste ich unseren Glauben und unsere Moscheen nicht mehr verteidigen«, sagt Ibrahim. Doch nachdem er seine Waffe abgegeben hatte, hatte er zunächst Angst. »Meine Kalaschnikow hatte mir Macht verliehen, doch plötzlich war ich wieder ein Niemand und völlig schutzlos«, berichtet Ibrahim.
Ohne Waffe versucht er seitdem, sich in Bangui in einem Leben zurechtzufinden, in dem es nicht nur darum geht, zu töten oder getötet zu werden. Für den Jugendlichen, dem eine Waffe die Kindheit raubte, ist das schwierig. Mit Gelegenheitsjobs hält er sich über Wasser. Mal belädt er einen Lastwagen, mal hilft er auf einer Baustelle aus. Doch meist findet er keine Arbeit und hat viel Zeit, über das nachzudenken, was die vergangenen Jahre aus ihm gemacht haben und was er aus den Jahren machte. »Als ich loszog, um meinen Vater zu rächen, dachte ich, dass meine Mutter stolz auf mich sein würde. Heute weiß ich, dass sie es nicht war«, sagt Ibrahim. Als er die Waffe in die Hand nahm, dachte er, dass der Krieg einen Held aus ihm machen würde. Heute weiß er, dass der Krieg nur Verlierer kennt.
»Äußerlich haben die Kämpfe mich vielleicht stark gemacht, aber innerlich haben sie mich kaputt gemacht. Ich habe im Krieg nichts gelernt, was mir in meinem neuen Leben weiterhelfen kann. Jetzt weiß ich, dass Kinder nie etwas im Krieg verloren haben«, sagt der Junge, der nur sechs Jahre zur Schule ging. Was er im Krieg tat, soll in Bangui niemand erfahren. »Wahrscheinlich hätten die Leute dann Angst vor mir und ich würde nie eine Freundin finden«, sagt der Junge, der gerne Lastwagenfahrer werden möchte.
Bei diesem Wunsch will ihm jetzt eine Partnerorganisation der Deutschen Welthungerhilfe helfen. Die vom ehemaligen zentralafrikanischen Fußball-Nationalspieler und Nationaltrainer Anatole Koué gegründete Organisation »Les frères centrafricains« will Ibrahim helfen, seinen Führerschein zu machen. »Beide Seiten haben im Krieg Kindersoldaten eingesetzt. Manche waren erst acht Jahre alt. Viele haben die Schule abgebrochen, weil sie kämpfen mussten. Aber jetzt hat der Staat kein Geld, um die traumatisierten Kinder zu behandeln und um ihnen eine Ausbildung zu ermöglichen«, sagt Koué.
Ibrahim weiß nicht, ob sich sein Traum vom Lastwagenfahren wirklich erfüllen wird. Doch eines weiß er ganz genau: Nie wieder will er eine Waffe in die Hand nehmen will. Der ehemalige Kindersoldat: »Alles ist besser als zu töten oder getötet zu werden.«
*Name geändert
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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