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Eine plötzliche Unwucht im Lauf der Dinge
Der Unfalltod eines jungen Mannes offenbart Risse in dessen Freundeskreis - Matthias Wittekindt seziert ein Kleinstadtidyll
Roter Kotflügel, Weißwandreifen, verchromte Stoßstange. Ein Sportwagen alter Schule, nicht ganz billig, ein Alfa Romeo vielleicht. Der Bucheinband gibt ein Thema vor. Zumindest hilfreich ist ein gewisses Faible für automobile Klassiker, wenn man sich auf die jüngste Kriminalerzählung von Matthias Wittekindt einlässt. Ganz leicht ist es nämlich nicht, die Übersicht zu behalten, wenn der Erzähler eintaucht in das Leben der jungen Erfolgreichen im aufstrebenden Fleurville in der französischen Provinz.
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* Matthias Wittekindt: Der Unfall in der Rue Bisson. Kriminalroman. Edition Nautilus. 240 S., br., 16 €.
Ein Freundeskreis, der sich regelmäßig in der Bar des noblen Fitnessclubs trifft: hippe Berufe, teure Immobilien - und eben auch klassische Autos. BMW, Mercedes, Alfa Romeo. Die Freunde, alle um die 30, stehen unter Schock, denn einer der ihren ist bei einem Unfall gestorben. Bei näherem Hinsehen ist auch Wut im Spiel, zeigt sich hinter mancher Betroffenheit ein schlechtes Gewissen. Denn es gab zuvor einen Streit. War es überhaupt ein Unfall? Lieutenant Ohayon, der Ermittler der örtlichen Polizei, hat da viele Fragen.
Ausgerechnet den beliebten Michel Descombes schleuderte es in jener regennassen Nacht mit seinem orangefarbenen BMW 2002 auf der Rue Bisson gegen einen Baum. Er war viel zu schnell unterwegs gewesen und ziemlich betrunken. Doch es finden sich Hinweise auf weitere Unfallbeteiligte. Zeugenaussagen, Lack- und Glassplitter weisen auf einen roten BMW hin, ein ganz seltenes Modell. Mehr Leute, als man denkt, kennen diesen Wagen.
Der Leser ist bei allem, was geschieht, faktisch anwesend. Er schaut aus der Perspektive ganz verschiedener Leute auf das Geschehen rund um den Unfallort - mit all der Unschärfe, die die durch Scheinwerfer erhellte Nacht, der Dauerregen und die Zweifel der Befragten erzeugen. Was also ist in jenen tragischen Momenten geschehen? Wie viele Fahrzeuge waren beteiligt? Gab es schuldhaftes Handeln?
Der ermittelnde Beamte lässt sich Zeit. Etwa bei der Befragung der Menschen, die Michel Descombes beste Freunde waren, wie etwa der zurückhaltende Alain Chartier, der ihn seit der Schule geradezu angehimmelt hat. Oder die Psychologin Yvonne und die schrille Nina, welche ein Musikstudio betreibt. Warum wirken alle so nervös, geradezu schuldbewusst? War der Charmeur Descombes am Ende nur ein eitler Frauenheld und raffgieriger Versicherungsvertreter? Lieutenant Ohayon weitet seine Ermittlungen aus. Und die beste Spur, die er hat, ist jener rote BMW ... Sie führt ihn in die Abgründe eines Provinzidylls, das längst keines mehr ist. Als sich der Fall auflöst, geschieht das unverhofft. So ist Krimi nun mal. Überraschend ist, dass dieses Ende so nebensächlich erscheint - die guten Freunde sind fort, doch das Leben geht einfach so weiter.
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