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»Unfarbene« Welt

Eugen Ruges Roman »Follower«: Science-Fiction - wie viel Gegenwart?

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

Morgen, das wird die Zeit sein, die alles vergessen lässt, was sich der Mensch einst unter Zukunft vorstellte. Das Himmelsblau: gefälscht; alle Erwartung: nur eine endlose Einkaufsliste. Die Idiotie fortwährender Kommunikation bildet immer neue »Communities«, die im medialen Mitteilungsrausch ihr Werk tun: Meinungsbakterien verbreiten, den groben Ton pflegen, die eigene Nichtigkeit aufpusten. Im Displayboy verabschiedet sich alles Männliche, und der Feminismus ist der erfolgreiche Feind des Femininen. Der Kerle sowieso.


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* Eugen Ruge: Follower. Roman. Rowohlt Verlag. 320 S., geb., 22,95 €.


In »Follower«, dem neuen Roman von Eugen Ruge, liest sich das so: »Post von @femfatal: Geh sterben fetter weißer Hetero.« Der Liftbetrieb erfolgt nach Geschlechtern getrennt, um Übergriffe auf Frauen zu vermeiden - da ist Ruge erfrischend nah dran an einer radikalgeschwätzigen Gegenwart, die den Sexismus hysterisch durch die Diskursleier dreht. Zwischen Gendertoilette und emanzipatorisch zerschundenen Sprachgebräuchen verpufft der Zauber der Geschlechtlichkeit.

Mit all dem, was der Mensch für fortschrittlich hält, beweist er seine Steigerungskraft an Hässlichkeit. Unvorstellbar ein Zeitalter, das nach dem technischen käme. Unter solcher Prämisse ist er vielleicht der letzte Held: jener Mensch, der irgendwann, aber konsequent das Interesse an der Zukunft aufrichtig und aufrecht verliert. In »Follower - Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel« führt uns Ruge nach vorn, in die Mitte dieses Jahrhunderts: Nio Schulz verkörpert mit Silikon-Implantat und mentalem Exoskelett den Typ des Kommenden. Der Charakter verlor sich im totalen Engineering. Und wenn schon liberal, dann fatal: Islamic ist chic - wer will, kann Kurzburka tragen. Liebe schnurrte zum Betriebssystem zusammen, das nicht Partner prüft, sondern die Spermaqualität. Ein Scanner tastet Gedanken ab, ob sie sich auf ein Tabu zubewegen. Das Technische, das politisch Korrekte, das kapitalistisch Verwertende plündert und erschöpft das Reservoir des Möglichen.

Ruges Roman ist Science-Fiction der bissigsten, hohnlachendsten Art. Nio Schulz, Zeitarbeiter bei E.on/Deutschland, ist stationiert in China, das in vier Unternehmenszonen geteilt ist. Er verkauft Lauf-Fußbänder. Die Markthits dieser Zeit: der Nachtfederball mit fluoreszierendem Knicklicht oder das essbare Zimmermädchenkostüm. Wenige Stunden nur umfasst die Handlung, Ruge treibt seinen Helden durch Stationen einer Identitätskrise, was in einer Welt, die keine subjektive Identität mehr kennt, nur zu absurden, grotesken Übersteigerungen führen kann. Es ist eine Zeit, in der die Gardinen »unfarben« sind, in der H-Bomben gegen den Klimawandel gezündet werden; Eisbären gibt es nicht mehr. Wortschätze stehen unter Beobachtung (wenn Schulz »negativ« hört, versteht er nur immer »negertief«). Und chinesische Kellnerinnen servieren im Schottenrock Tofu-Eisbein. Tweets, Postings, Hashtags jagen den Menschen um die eigene Achse gut gepolsteter Leere. Kraft braucht Entladung, man kann sich Tötungsrechte an anderen Menschen sichern.

»In Zeiten abnehmenden Lichts« hieß Ruges Erfolgsroman, das 20. Jahrhundert im Schicksalsfokus einer kommunistischen Familie, eine erschütternde wie erschauernd komische DDR-Geschichte von Utopie und deren Verrat. Auf diese Geschichte greift der Autor noch einmal zurück, aber sozusagen unter kosmologischem Aspekt.

Ruge verknüpft plötzlich Zukunft mit Vergangenheit, die Genesis wird aufgerufen, als großes Kapitel des Staunens darüber, was seit dem Urknall alles in unendlich langer Zeit geschehen und nicht geschehen, aufeinanderprallen und aneinander vorbeiziehen, aufwallen und niedergehen musste, sternenweit und körperzellenklein - damit sich formen konnte, was jetzt ist und nun weiterzieht im Welten-Raum. Das familiäre Gedächtnis: Nio Schulz' Erweckungserlebnis, das ihn auf dem Weg zum Geschäftstermin ins Schlingern bringt, ihn aus dem Radarfeld der totalen Überwachungstechnik treibt, in ihm das Anarchische aufblitzen und zum kommenden Aufständler machen wird.

Isoliert, allein, verloren, aber endlich wieder: ein Ich. Das Netzwerk zerfetzen! Raus aus dem Schlund, mit allen verbunden zu sein!

Eugen Ruges Roman ist witzig, böse, er bebt vor Ungemach. Im Zorn aber die Zuversicht, dass ein Blitz irgendwann zwischen uns fährt und das heilig Unvorhersehbare wieder ins Recht setzt. Und also jene Schwelle höherlegt, hinter der das Zittern vor der Schöpfung und die Scheu, sie anzutasten, wieder in unsere Existenz treten.

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