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Das Universum im Kopf
Matthias Eckoldt lädt zu einer spannenden Exkursion in die Mysterien unseres Gehirns und unseres Bewusstseins
Die Erforschung des menschlichen Gehirns gehört zweifellos zu den faszinierendsten Kapiteln der Wissenschaftsgeschichte. Denn die Frage, was es mit der hellgrauen, weichen Masse in unserem Kopf auf sich hat, stellten sich Menschen schon vor rund 12 000 Jahren. Das belegen fossile Schädel, die symmetrische Löcher aufweisen, die sich in dieser Form nur durch einen chirurgischen Eingriff erklären lassen. Die abgerundeten Kanten der Löcher deuten zudem darauf hin, dass die Operierten mitunter mehrere Jahre überlebten. Warum man ihre Schädel überhaupt öffnete, ist hingegen unklar. Möglicherweise dienten die sogenannten Trepanationen dazu, krankmachende Geister aus dem Körper der Betroffenen entweichen zu lassen.
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* Matthias Eckoldt: Eine kurze Geschichte von Gehirn und Geist. Woher wir wissen, wie wir fühlen und denken. Pantheon. 256 S., geb., 14,99 €.
Welche Aufgaben das Gehirn tatsächlich erfüllt, blieb den Menschen lange verborgen. Es mag sonderbar anmuten, aber noch im alten Griechenland herrschte die Auffassung vor, dass nicht der Kopf, sondern das Herz der Sitz der Seele und des Geistes sei. Für Aristoteles war das Gehirn lediglich eine Art Kühlaggregat, welches die Temperatur des durch die Nahrung erhitzten Blutes regelte.
Knapp 2500 Jahre sind seitdem vergangen. Heute können wir mit Hilfe bildgebender Verfahren in Echtzeit verfolgen, was im Gehirn passiert und welche Hirnregionen bei bestimmten Denk- und Verhaltensweisen aktiv sind. Keine Frage, die Hirnforschung boomt und beansprucht die Deutungshoheit auch zur Beantwortung traditioneller philosophischer Fragen: Wie stehen Gehirn und Geist zueinander? Wo befindet sich das Ich? Was ist Bewusstsein? Haben wir einen freien Willen?
In seinem Buch »Eine kurze Geschichte von Gehirn und Geist« beschreibt der Wissenschaftspublizist Matthias Eckoldt, wie es zu den beeindruckenden Fortschritten in der Hirnforschung kam. Zugleich macht er deutlich, dass die verschiedenen Modelle des Gehirns an technologische Basisinnovationen ihrer Entstehungszeit angelehnt sind. Für die Römer beispielsweise funktionierte das Gehirn wie eine ausgetüftelte Brunnenanlage. René Descartes stützte sich bei der Erklärung der Hirnvorgänge auf die im 17. Jahrhundert zur Blüte gelangte Mechanik. Der nächste große Schub kam mit dem allgemeinen Aufschwung der Elektrizität. Plötzlich ähnelte das Gehirn einem Telegrafenamt, »das durch die Nerven mit den Befehlsempfängern im Körper verbunden ist«, so Eckoldt. Und so ging es bis in die Gegenwart weiter: Die Geografie stand Pate bei der Kartierung der Großhirnrinde, die Chemie gab neue Einblicke in die neuronale Informationsübertragung. Im Computermodell des Gehirns arbeiten die Nervenzellen nach den Grundoperationen der Logik, und im Zeitalter des Internets wird unser Denkorgan als komplexe Struktur von Netzwerken beschrieben.
Eckoldt hat sein mit großer Sachkenntnis verfasstes Buch in fünf Kapitel gegliedert: Antike, Mittelalter und Renaissance, Neuzeit, Moderne, Gegenwart. Von den darin nachgezeichneten historischen Entwicklungen seien hier nur einige genannt: die Phrenologie von Franz Joseph Gall, die in dem Versuch gipfelte, die Begabungen von Menschen an ihrer Kopfform abzulesen, die Entdeckung der Sprachzentren durch Broca und Wernicke, die Strukturierung der Großhirnrinde durch Korbinian Brodmann, die Untersuchung von Lenins Gehirn durch Oskar Vogt, die Erfindung des Elektroenzephalografen durch Hans Berger. Inzwischen hat der Zusatz »Neuro« eine beinahe inflationäre Verwendung gefunden: Neuro-Ökonomie, Neuro-Philosophie, Neuro-Pädagogik, Neuro-Marketing etc. Manche dieser Ansätze sind durchaus bedenkenswert, vieles jedoch ist reine Effekthascherei.
Denn alle bisher erzielten Erfolge der Neurowissenschaften können nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch viel zu tun bleibt, will man die mit der Erforschung des Gehirns verbundenen philosophischen Fragen beantworten. Namentlich für das Verständnis des Zusammenhangs von Materie und Geist fehlt nach Meinung des Autors noch immer die zündende Idee. Er schließt sich deshalb am Ende seines Buches dem deutschen Psychologen Frank Rösler an, von dem der provokante Satz stammt: »Wir haben in der ganzen Hirnforschung bisher keinen Einstein. Wir haben noch nicht einmal einen Newton.« Das ist wohl etwas zu pessimistisch gedacht. Zwar interpretieren manche Hirnforscher ihre Daten nach wie vor im Stil des Reduktionismus. Andererseits lehren uns die neuen bildgebenden Verfahren, dass die meisten Leistungen des Gehirns sowohl lokal bedingt als auch ganzheitlich vermittelt sind. Das heißt, sie werden von speziellen Hirnregionen ebenso gesteuert wie von Prozessen, die sich über größere Gehirnbereiche erstrecken. Vielleicht liegt in dieser dialektischen Dynamik der Schlüssel zu einem besseren Verständnis der Hirntätigkeit und des damit verbundenen psychophysischen Problems.
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