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Eine Herkulesaufgabe

Michael Richter wirft einen detaillierten Blick auf die Lage von Geflüchteten in Deutschland im Herbst 2016

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

2015 kamen über eine Million Menschen neu nach Deutschland. In aller Eile wurden Unterkünfte aus dem Boden gestampft, Turnhallen gesperrt. Ungezählte Helfer zeigten, was an Hilfsbereitschaft und Improvisationstalent im Land steckt. Einem Land, was sich gerade rapide verändert. Nicht nur zum Guten, vernimmt man den teilweise hasserfüllten Ton in der Debatte um Flüchtlinge und sieht man die immer höher werdende Zahl von Gewalttaten und Anschlägen von rechts.


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* Michael Richter: Neue Heimat Deuschland. Edition Körber-Stiftung. 232 S., br., 16 €.


2016 kamen viel weniger Menschen neu nach Deutschland. So rückte die Frage versteckt in den Fokus, was mit jenen passiert, die bleiben, auf ab- oder unabsehbare Zeit. Viele Antwortversuche kamen nicht über den wolkigen Begriff der »Integration« hinaus - aber wer soll sich denn konkret in was integrieren? Und was bedeutet das eigentlich?

Der Autor und Regisseur Michael Richter, der sich schon lange mit der europäischen und deutschen Flüchtlingspolitik befasst, hat mit »Neue Heimat Deutschland« nicht nur eine Bestandsaufnahme der Situation in Deutschland im Herbst 2016 vorgelegt, der Autor empfiehlt auch Schritte, damit die »Herkulesaufgabe«, nämlich eben jene Integration, gelingen kann. Richter geht davon aus, dass rund 600 000 Menschen von denen, die in den vergangenen beiden Jahren nach Deutschland flohen oder migrierten, bleiben werden.

Damit sich ihnen auch Perspektiven eröffnen, ist es laut Richter nötig, mehr qualifizierten Deutschunterricht anzubieten, Plätze in Kindergärten und Schulen bereitzustellen, außerdem müssten Wohnmöglichkeiten für alle gewährleistet werden. Als wenn das allein noch keine Jahrzehntaufgabe wäre, stellt sie sich in einer Gesellschaft, die zwar lange Erfahrung mit Einwanderung hat. Aber: »Diese Einwanderungsgeschichte wird gern verdrängt. Sie ist nie Teil der kollektiven Identität geworden«, konstatiert Richter - »damit werden sich auch die Geflüchteten auseinandersetzen müssen«.

Und so zeigt der Autor anhand vieler konkreter Beispiele ein vielschichtiges, aber auch widersprüchliches Bild auf: Da ist das Engagement von vielen, Geflüchteten wie Einheimischen, das mittlerweile seit über einem Jahr anhält, ungeachtet einer Kölner Silvesternacht oder einer Politik, die längst nichts mehr mit Willkommenskultur zu tun hat. Da sind auf der anderen Seite die bürokratischen Hürden, die teilweise absurd scheinen.

Ein Beispiel: Khadim und Malick aus Senegal. Sie sprechen gut Deutsch, haben beide einen Ausbildungsplatz. Ihre Asylanträge wurden abgelehnt, abgeschoben werden sie auch nicht - sie sind abgelehnte, aber geduldete Flüchtlinge. Und als solche dürfen sie wiederum nicht arbeiten. Eine Geschichte, die nur Verlierer kennt: Die beiden jungen Männer können nicht arbeiten, die Unternehmen vermissen zwei qualifizierte Azubis, der Staat und damit der Steuerzahler muss sie alimentieren.

Richter präsentiert Geschichten vieler Menschen, gleichzeitig betrachtet er abstrakte Felder wie Gesetzgebung, Wohnungsbau oder kulturelle Unterschiede, die zu überbrücken sind. Am Ende der Lektüre ergibt sich für den Leser ein guter Überblick, wie mannigfaltig die Herausforderungen bleiben, wo aber auch bereits viel erreicht wurde. Für den Autor sind drei Felder relevant, auf denen sich entscheidet, ob ein gutes Zusammenleben gelingen kann: Zugang der Geflüchteten zum Wohnungsmarkt, Partizipation am Bildungssystem, Zugang zum Arbeitsmarkt: Herrscht dabei Chancengerechtigkeit, kann laut Richter Integration gelingen.

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