Narziss auf der Bühne

Åsne Seierstad zeichnet in »Einer von uns« ein beklemmendes Porträt des Massenmörders Anders Behring Breivik

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Zuerst muss da diese dringende Bitte um Entschuldigung raus. Denn das hier zu besprechende Buch erschien schon im April 2016 in deutscher Sprache und wird mittlerweile in dritter Auflage verkauft. Dass erst jetzt die nd-Rezension folgt, hat emotionale Gründe. Diesen 550-Seiten-Klopper zu bewältigen, gelingt zart Besaiteten nur, wenn sie ihn immer wieder zur Seite legen und erst zu einem späteren Zeitpunkt weiterlesen. Viel zu explizit und distanzlos schildert Åsne Seierstad den Lebensweg des Massenmörders Anders Behring Breivik. Allein die ersten zehn Seiten sind schwer zu ertragen. Eindringlich, als sei die Autorin dabei gewesen, berichtet sie, was der Rechtsextreme am 22. Juli 2011 auf der norwegischen Insel Utøya trieb.

Wie seine Gummistiefel im nassen Boden versanken und der als Polizist Verkleidete die Jugendlichen zusammenrief. Wie er die Jungen und Mädchen anlächelte und dann einen nach dem anderen erschoss, weil aus ihnen vielleicht einmal Sozialisten werden könnten. Wie die jungen Menschen um ihr Leben flehten und sich am Ende doch das Blut mit dem Regenwasser vermischte, weil die echte Polizei noch lange nicht da war und der Ort keine Verstecke bot. Details seien hier ausgespart, aber Seierstad scheut sich nicht, in ihrer Reportage auch den letzten Schritt zu gehen und die unfassbare Brutalität des damals 32-Jährigen genau darzustellen.

Wer diese Tortur überstanden hat, für den beginnt die psychische Herausforderung aber erst: Sorgfältig erzählt die Journalistin die Biografie eines Menschen, von dem man doch eigentlich gar nichts wissen zu wollen glaubt. Mit jeder neuen Zeile über Breiviks Eigenbrötlertum und seinen politischen Wirrwarr wachsen der innere Widerstand und der Wille, das Buch sofort zuzuklappen und in die Zimmerecke zu pfeffern. Warum sollte man ein solch verachtenswertes Subjekt mit Aufmerksamkeit adeln? Die Antwort liefert die Autorin im Titel ihres Werkes. Denn Anders Behring Breivik ist »Einer von uns«.

Materiell fehlte es ihm als Kind an nichts, seelisch aber hatte er zu leiden. Sein wohlhabender Vater verließ die Familie früh und widmete ihr außer Unterhaltszahlungen keine Zuwendung mehr. Die psychisch angeschlagene Mutter war völlig überfordert mit der Erziehung ihres Sohnes und der Tochter. Eine Psychologin attestierte Anders bereits im Alter von vier Jahren, ihm fehle »Spontaneität, Bewegungsdrang, Fantasie und Empathie«. Seierstad beschreibt die Entwicklungsstörung am Beispiel der sadistischen Lust des Kindes, Tiere zu quälen. Dafür habe es sich unter anderem Ameisen ausgeguckt: »Er nahm sie sich einzeln vor und zerquetschte sie mit dem Daumen oder Zeigefinger. ›Du, du und du!‹, entschied er, der Herr über Leben und Tod.«

Von klein auf suchte er eine Bestätigung, die ihm niemals jemand schenken wollte. Er trieb sich im Hip-Hop-Milieu herum, ging unter die Sprayer, wurde Mitglied der Freimaurer, politisierte sich und schloss sich der rassistischen »Fortschrittspartei« an. Überall wollte er hervorstechen, als besonders anerkannt werden. Jedes Mal wurde er ebenso brüsk zurückgewiesen, wie er sich zuvor angedient hatte. Bei den Fremdenfeinden tobte er sich bevorzugt online aus, hetzte gegen Muslime, Linke, Schwule, Frauen - inhaltlich voll auf Linie, aber so penetrant, dass selbst die Rassisten über diesen Breivik nur den Kopf schüttelten.

Seierstad sprach für ihr meisterhaft geschriebenes und von Frank Zuber und Nora Pröfrock vorzüglich ins Deutsche übersetztes Buch mit jedem, den sie aus dem früheren Umfeld des späteren Killers finden konnte - nur nicht mit der Hauptfigur selbst, denn Breivik zog es vor, Seierstads Interviewanfragen aus dem Knast mit sexistischen Schmähungen zu beantworten. Trotzdem gelingt es ihr, den Täter nicht zu dämonisieren. Man »versteht« diesen Breivik, weil nachvollziehbar wird, dass seine Morde aus seiner politischen Haltung resultierten. Präzise beschreibt die Autorin, wie sich Breivik in sich selbst zurückzog, auf seinem Zimmer im »Hotel Mama« Ego-Shooter zockte, den Anschlag auf das Osloer Regierungsviertel sowie den Mord an 77 Menschen auf Utøya vorbereitete und ein Manifest zimmerte, das in weiten Teilen auch einer CSU-Bierzeltrede entstammen könnte.

Immer wieder schneidet Seierstad in diese Biografie ebenso reportagehaft formulierte Porträts jener Leute hinein, die durch Breiviks Schüsse sterben sollten. Die vor dem Irak-Krieg geflüchtete Bano hoffte beispielsweise auf eine sichere Zukunft. Die Passagen, in denen ihr Leben zur Sprache kommt, verleihen diesem und jedem anderen der getöteten Menschen eine Würde, die trotz der brutalen und schmerzend-detailliert geschilderten Ermordung zu schreien scheinen: Selbst solche Grausamkeit wird nie in der Lage sein, die offene Gesellschaft zu zerstören. Es ist eine bittere Ironie, dass ein Breivik ausgerechnet im liberalen Norwegen möglich wurde. In vielen Ländern hätte die Polizei nicht derart versagt, wie es Seierstad für diesen Fall nachweist. Die norwegische Regierung verstand aber, dass der Abbau von Bürgerrechten als Reaktion Breivik zum Sieg verholfen hätte.

Nach 430 Seiten ist das Schlachten vorbei. Der aufwühlendste Part des Buches steht aber noch bevor: Seierstad rekonstruiert den Gerichtsprozess, den Breivik für sich nutzen konnte - eben weil er in einem humanen Land lebt, das ihm erlaubte, gescheitelt im Anzug zu erscheinen und seine Thesen kundzutun, anstatt in Häftlingskluft im Käfig stumm vorgeführt zu werden. Ein einziges Mal weinte er während der Verhandlung: Nicht, als die Morde aufgearbeitet wurden. Auch nicht, als Eltern und Überlebende aussagten. Sondern in dem Moment, als das Video eingespielt wurde, in dem er sich zum »Retter der weißen Rasse« stilisiert.

Den Richtern lagen zwei psychiatrische Gutachten vor - eines beurteilte ihn als »nicht zurechnungsfähig« und ein anderes als »zurechnungsfähig«. Sie entschieden für letzteres und verurteilten den Angeklagten zu 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Breivik nahm das Urteil mit einem kalten Grinsen zur Kenntnis.

Åsne Seierstad: Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders. Aus dem Norwegischen und Englischen von Frank Zuber und Nora Pröfrock. Kein & Aber. 544 S., geb., 26 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.