Der unbekannte Riese

Im Haus eines Gründervaters wird die Genossenschaftsidee gehütet

  • Hendrik Lasch, Delitzsch
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Hüter des Welterbes sitzen in einem engen Haus in einer schmalen Gasse der sächsischen Kleinstadt Delitzsch. Kreuzgasse 10: eine Adresse, in der Geschichte geschrieben wurde - die heute indes kaum jemand kennt. 1849 rief hier der Richter und Sozialreformer Hermann Schulze eine erste deutsche Genossenschaft ins Leben, in der Schuhmacher gemeinsam wirtschafteten. Während in dem Haus seit 1992 ein Museum eingerichtet ist, hat der damals propagierte Ansatz die Massen ergriffen: Weltweit, so heißt es in einem Antrag, mit dem Deutschland die Idee der Genossenschaft als immaterielles Welterbe der Unesco anerkennen lassen will, gibt es heute 900 000 Genossenschaften mit 800 Millionen Mitgliedern. In der Bundesrepublik soll jeder Vierte Mitglied einer Genossenschaft sein. Dennoch gebe es »erhebliche Risiken für Erhalt und Weitergabe« der Idee, heißt es in dem Antrag - allen voran einen »sinkenden Bekanntheitsgrad« unter Jüngeren. Die Genossenschaftsidee ist ein Riese, der öffentlich als Zwerg gesehen wird.

Für Philipp Bludovsky ist das kein Wunder. In den Schulen spielen Genossenschaften keine Rolle, sagt der junge Historiker, der das Museum seit 2015 leitet, »und in einem Studium der Betriebs- oder Volkswirtschaft wird es höchstens im Vorbeigehen erwähnt.« Wirtschaftsnachrichten drehen sich oft um Aufstieg und Fall von Aktienkursen - womit eine Genossenschaft nicht dienen kann. Und außerdem, räumt Bludovsky ein, gelten sie häufig als »ein wenig altbacken«.

Ein Fehler, meint der Museumschef. Eigentlich sei die Genossenschaft »eine Wirtschaftsform der Zukunft«. In Zeiten, in denen die Globalisierung an ihre Grenzen stößt und der renditegetriebene Turbokapitalismus von einer Krise in die nächste taumelt, böte sich eine Form des Wirtschaftens an, die »lokal verankert ist, nicht von hartem Renditestreben getrieben ist und den Menschen vor Ort dient«. Und in der diese Menschen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, statt sich nur als Objekte von Managern zu fühlen. »Selbsthilfe, Selbstverantwortung, Selbstverwaltung« heißen die Grundprinzipien von Genossenschaften, die an einer roten Wand in dem Museum prangen. Den Soundtrack dazu könnte ein bekanntes Arbeiterlied liefern: » ... um uns selber müssen wir uns selber kümmern.«

Hermann Schulze, der seinen Namen bei seiner Wahl in die preußische Nationalversammlung um den seiner Heimatstadt Delitzsch ergänzte, predigte die Idee den Not leidenden Schuhmachern in Delitzsch - eine Idee, die Bludovsky nicht als links, sondern als »linksliberal« bezeichnet, weil sie »keine grundlegende Kritik am Wirtschaftssystem« übe. Sie entstand, nachdem radikalere Versuche zur Veränderung der Gesellschaft misslungen waren. Wegen des Scheiterns der Revolution von 1848 war auch Schulze-Delitzsch an politischer Betätigung gehindert. Er kümmerte sich stattdessen um Verbesserungen im Alltag - ein Ansatz, der auch anderswo praktiziert wurde: Im Westerwald rief Friedrich Wilhelm Raiffeisen ebenfalls im Jahr 1849 den »Flammersfelder Hülfsverein« ins Leben, später gründete er landwirtschaftliche Darlehenskassen.

Der Antrag an die Unesco nennt die beiden Reformer als Gründerväter der Genossenschaftsidee - was zu kurz greift, wie Kritiker anmerken: Ähnliche Überlegungen und praktische Ansätze habe es auch in Frankreich und England gegeben; den Antrag, über den die Unesco jetzt befindet, hätte deshalb neben der Hermann-Schulze-Delitzsch- und der Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft auch sehr gut das »National Co-operatives Archive« in Manchester mitverfassen können.

Nun aber befindet der für das immaterielle Welterbe zuständige Ausschuss der Unesco, der seit Montag im äthiopischen Addis Abeba tagt, über einen rein deutschen Antrag. Die Genossenschaftsidee soll in der Kategorie »gesellschaftliche Bräuche, Feste und Rituale« geführt werden - als Form bürgerschaftlicher Selbsthilfe, die von »Solidarität, Solidität und Nachhaltigkeit« geprägt und global verbreitet sei und zum »gesellschaftlichen Wandel« beitrage. Einst aus der Not geboren, seien Genossenschaften heute ein probates Mittel, um Chancengleichheit und sozialen Ausgleich zu befördern und den Tendenzen zur Privatisierung entgegen zu wirken, so der Antrag.

Das alles klingt gut und zeitgemäß - ist aber zumindest in der Bundesrepublik eher schöne Theorie als rege gelebte Praxis. Wenn junge Gründer eine Firma ins Leben rufen, melden sie meist eine GbR oder eine GmbH an, statt eine Genossenschaft eintragen zu lassen. 1922 gab es in Deutschland 48 000 Genossenschaften: »Das war damals die verbreitetste Unternehmensform«, sagt Bludovsky. Heute sind es noch 8000. Dabei böte sich das Modell in vielen Bereichen an, so der Museumschef: um Angebote im sozialen oder kulturellen Bereich zu wahren, die Daseinsvorsorge zu sichern oder auch Herausforderungen durch die Flüchtlingskrise zu bewältigen. »Vielleicht fehlt ein bisschen der hippe Aspekt«, sinniert Bludovsky. Immerhin: Gerade junge Leute etwa im nahe gelegenen Leipzig setzen häufiger auf kooperatives Handeln, auch wenn nicht immer das Etikett »Genossenschaft« auftaucht. »Es gibt ein zartes Pflänzchen«, glaubt Bludovsky. Kürzlich sei sogar ein Professor in die Delitzscher Kreuzgasse gekommen, der in Leipzig Volkswirtschaftslehre unterrichtet. Er sei durch ein privates Engagement auf Genossenschaften aufmerksam geworden und wolle diese nun in seinen Lehrplan aufnehmen - auf dass Wirtschaftsstudenten auch mal auf andere Gedanken kommen.

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