Wenn niemand etwas erwartet
Mit Fotos und Gedichten verarbeiten zwei Geflüchtete ihre Odyssee. Von Katrin Schielke
Montagmorgen im Oberstufenzentrum «Lotis» in der Dudenstraße in Berlin-Tempelhof, kurz vor acht Uhr. Hektik, alle Schüler drängeln sich die Treppen hoch, zwei von ihnen begrüßen sich mit Handschlag. Ghani Ataei und Mohammad Wali. Mohammad ist ein schlanker, flinker Typ, in seinem längeren, dunklen Haar steckt ein Stirnband, Kopfhörer baumeln um seinen Hals, Ghani ein wenig stämmig, ganz in Schwarz gekleidet. Ganz normale Jungen in einer Schule. Aber beide haben einen langen und schwierigen Weg hinter sich als «unbegleitete minderjährige Flüchtlinge». Und beide haben ein besonderes Talent: Mohammad Wali fotografiert, Ghani Ataei schreibt Gedichte:
Sie töteten vor meinen Augen, im Dorf / Vier Tage konnte ich nicht sprechen / Vier Tage blieb ich stumm / Bis ich verstand / Niemand erwartet etwas von niemandem
Düstere Zeilen von einem 17-Jährigen. Ghani Ataei ist in Herat geboren, der zweitgrößten Stadt Afghanistans. Aufgewachsen ist er in einem Dorf. Acht Jahre war er in der Schule und hat während seiner Jugend immer gearbeitet, meist auf den Kartoffelfeldern. Als er 16 war, sagte seine acht Jahre ältere Schwester zu ihm: «Du musst weggehen.» Entführungen von Jugendlichen waren in Herat damals an der Tagesordnung. Ghani wusste nicht wohin, wollte damals nicht unbedingt nach Deutschland. «Ich hatte keine Vorstellungen von Deutschland». Viele Leute seien wegen des Geldes hergekommen. «Ich bin mitgegangen aus Angst um Leib und Leben.»
Seine Reise dauerte zwei Monate. Er lief von Herat nach Kabul, fuhr mit dem Bus nach Pakistan, lief dann bis in den Iran, vom Iran in die Türkei. Aus der Türkei schickten Schlepper sie in Richtung einer griechischen Insel mit zu wenig Sprit. Am Ende musste er eine halbe Stunde schwimmen. In Ungarn wurde er von der Grenzpolizei geschlagen. Danach kam er über Österreich nach Deutschland. «Der Weg war ganz schlimm», sagt er mit seiner leicht rauen und brummigen Stimme. «Ich kann mich noch gut erinnern - viele sind vor meinen Augen in Griechenland ertrunken». Ghani ist Shiit und schweigt einen Moment. «Gott hat mir geholfen». Seit einem Jahr ist er jetzt in Deutschland «Am Anfang war alles schwer für mich, ich konnte nicht schlafen und fragte mich oft, warum ich überhaupt hier bin.»
In seiner ersten Notunterkunft lernte er eine Familie aus Zehlendorf kennen, die ihm half. Mittlerweile hat er sich an Deutschland gewöhnt. «Ich habe keine Zweifel daran, dass ich am richtigen Ort bin.» Das klingt sehr poetisch und ein bisschen wie einstudiert, aber durchaus ernst gemeint. In Deutschland könne er in Frieden leben und jetzt, wo sein Deutsch besser sei, viel machen.
Seit einem Jahr besucht Ghani das Oberstufenzentrum Lotis und sagt, hier habe man ihm viel geholfen, seine Lehrer in der Willkommensklasse, die Sozialpädagogen der Schule, alle hätten sich bemüht um ihn. Nach der Willkommensklasse besucht er jetzt eine weiterführende Klasse, nach diesem Schuljahr kann er eine Ausbildung beginnen. Er möchte gern Automechaniker werden. «Ich weiß nicht, ob ich hierbleiben kann, aber ich will nicht zurückgehen - wenn ich zurückgehe, wird man mich töten.»
Niemand erwartet etwas von niemandem. Wenn es so wenig Hoffnung gibt, wie Ghani in seinen Gedichten ausdrückt, warum schreibt er dann - was bedeutet ihm das Schreiben? «Poesie ist ein Schwerpunkt meiner Kultur, ich habe schon früh angefangen zu schreiben.» Dann sagt er wieder einen dieser Sätze, die schwer wiegen: «Mit der Macht der Sprache kann ich mich für mein Ankommen in Deutschland vorbereiten.» Alles, was er erlebt habe, könne er in seinen Gedichten verarbeiten, obwohl es ihm oft schwerfalle.
Gleich, wie viel ich älter werde / wie erwachsen ich sein werde / wenn ich unruhig bin und voller Sorge / wünsche ich die Mutter an der Seite / Aber ich bin hoffnungslos /was die Welt angeht
«Wenn man keine Mutter hat, ist das Leben schwer, eine Herausforderung», sagt er und zögert einen Moment, «aber mein Leben hat gerade angefangen, jetzt habe ich wieder ein bisschen mehr Hoffnung. Ich habe keine andere Wahl, ich muss nach vorne gucken. Jeder ist seines Glückes Schmied».
Beim diesjährigen «internationalen literaturfestival berlin» im September hat Ghani seine Gedichte einige Male vorgetragen. Unter der Leitung der Journalistin Susanne Koelbl haben 14- bis 18-Jährige unbegleitete Flüchtlinge aus dem Iran und Afghanistan an Schreibwerkstätten teilgenommen. Ghani war einer von ihnen. Sie trafen sich einmal pro Woche mit Mentoren, um an ihren Texten zu arbeiten. Sie schrieben im persischen Dari, die Gedichte wurden anschließend vom afghanisch-stämmigen Berliner Anwalt Aarash Spanta ins Deutsche übersetzt und in einer Broschüre zusammengetragen.
«Ich schreibe nicht jeden Tag», sagt Ghani, «wenn ich schreibe, werde ich traurig, und manchmal schäme ich mich, dass ich solche Sachen schreibe.» Aber wenn man Ghani mit seinen Freunden in der Schule sieht, gibt es auch diese andere Seite, einen Jungen, der gerne rumwitzelt. «Ja», sagt er und lächelt, «ich mag Menschen, die mich zum Lachen bringen - Lachen ist gesund. Wenn man nicht lacht, wird man verrückt.»
In einem Jahr will Ghani eine Ausbildung anfangen. Freundin und Familie, dafür habe er noch Zeit. «Ich muss jetzt an meine Sachen denken, Familie kommt später», sagt er.
Auch sein Mitschüler Mohammad Wali wirkt entschlossen, was seine Zukunft betrifft. Wie er sich sein Leben in zehn Jahren vorstelle? «Dann bin ich 28 und mit dem Studium fertig», sagt er. Sein Wunschberuf ist Informatiker, Fotograf solle aber sein «Zweitberuf» bleiben.
«Ich hoffe, dass ich dann in Syrien bin, um mein Land wieder aufzubauen.» Bis dahin scheint er hier ein neues Zuhause gefunden zu haben, er wohnt bei einer deutschen Familie mit vier Kindern an der Krummen Lanke in Zehlendorf. «Sie sind meine Familie geworden und helfen mir auch bei der Sprache - aber einmal pro Tag telefoniere ich mit meinen Eltern.»
Der 18-jährige Mohammad ist syrischer Kurde und kommt aus Amouda, einer Stadt mit 50 000 Einwohnern in Nordost-Syrien, an der Grenze zur Türkei. Nach Deutschland ist er 2015 mit Freunden gekommen. «In Syrien sollte ich Soldat werden, aber ich wollte nicht. Meine Eltern haben gesagt, ich solle weggehen aus Syrien.»
Schon 2011 hatte er syrische Demonstrationen fotografiert. Gemeinsam mit anderen Jugendlichen, die sich in einer Gruppe, die sie die «Amouda-Koordinierung» nannten, zusammengeschlossen hatten. Die Fotos und Filme teilten sie damals auf Youtube. 2013 begann er dann, sich intensiver mit Fotografie zu befassen. Gelernt habe er das Fotografieren nicht, ein bisschen von seinem Bruder und Cousin abgeguckt, die ihm auch eine Spiegelreflexkamera liehen. Als er 2013 dann auch für ein politisches Onlinemagazin Fotos machte und einen Blog schrieb, begannen die Repressionen.
Fast ein Jahr lebte er in der Türkei. In Istanbul arbeitete er in einem Internetcafé. «Dort hätte ich aber nicht studieren können und manche Kurden in der Türkei haben zu mir gesagt: »Du bist Kurde, was machst du hier, warum kämpfst du nicht in Syrien?«
Als er entschied nach Deutschland zu gehen, hatte er auch keine genauen Vorstellungen, wie es hier sein würde. »Ich habe mir nur vorgestellt, dass es hier einfacher ist zu sagen, was du willst.« Auch er machte sich auf einen langen Weg, kam über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Deutschland.
Als er im OSZ »Lotis« Deutsch lernte, zeigte er einem seiner Lehrer seine Fotos aus seiner Heimatstadt. Der Lehrer war beeindruckt und gestaltete daraus einen hochwertigen Kalender für das Jahr 2017. Auf dem Deckblatt turnt ein Jugendlicher auf einem Dach, hält ein Bein in den Himmel, pure Lebensfreude. Im Kalender sieht man alte Menschen, viele Kinder, eine Gruppe fröhlicher junger Männer. Mohammads Nachbarn und Freunde, die jetzt in der ganzen Welt verstreut sind. Sehen so Menschen im Krieg aus? »Ich wollte keine Grausamkeit darstellen, sondern Lebensfreude.« Auf manchen Fotos sehe man aber »den Krieg im Herzen - die Grenzen sind zu, die Kinder könnten nicht normal spielen, es gibt wenig Wasser.« Für ihn ist es wichtig, diese Fotos aus Syrien zu zeigen. »Viele Deutsche wissen gar nicht, wie es in Syrien aussieht.«
Seitdem er in Berlin ist, fotografiert er Seen, Wälder und Menschen. Mit denen er viel spricht, über das »alte Deutschland« zum Beispiel, wie Berlin nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde - »das ist ja ähnlich wie bei uns«.
Die Sehnsucht nach der Heimat bleibt: »Mir fehlt das Leben in Syrien, hier ist alles anders. Ich vermisse das Leben auf der Straße, das Leben mit der Familie und Menschen, die ich schon lange kenne.« Und Ghani? Er vermisst vor allem seine Schwester. Wann und wo er sie wiedersehen wird, weiß er nicht.
Eine Weile werden sie bestimmt noch in Berlin bleiben, diese beiden jungen Männer. Sie werden weiter Deutsch lernen, eine Ausbildung machen. Es gibt viele Menschen in ihrer Schule und in Berlin, die ihnen helfen wollen. Den Rest des Weges müssen sie dann alleine gehen - »unbegleitet« - aber doch immer begleitet von diesem besonderen Sinn für Sprache und Bilder, der sie nie verlassen wird.
Kalender 2017 mit Fotos aus Syrien von Mohammad Wali, 10 Euro plus Versand, Kontakt: Gerhard Platt, platt@osz-lotis.de
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