Bundesregierung weiß nichts über Opfer in Afghanistan
Bundestag debattiert über Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes: Blind und langatmig
»Machen wir uns keine Illusionen: Der Kampf gegen den Terror wird noch lange dauern und wird uns einen langen Atem abverlangen. Schnelle Erfolge sind keineswegs garantiert.« Das sagte Gerhard Schröder, als er im November 2001 im Bundestag für den Afghanistan-Einsatz warb. Fünfzehn Jahre später ist die Bundeswehr noch immer vor Ort und wird es nach dem Beschluss des Kabinetts für mindestens ein weiteres Jahr bleiben. Am Donnerstag diskutierte das Parlament den Antrag der Koalition in erster Lesung. Es gebe Fortschritte in Afghanistan, erklärte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU). Heike Hänsel (LINKE) wies dagegen auf die Millionen Geflüchteten hin, darauf, dass das Land zu den ärmsten der Welt und die Regierung zu einer der korruptesten gehöre.
Fünfzehn Jahre nach Schröders Rede ist die Terrorgefahr in Europa nicht gesunken - im Gegenteil. Die Sicherheitslage in Afghanistan hat sich in den letzten Jahren nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. In dem Fortschrittsbericht von 2014 heißt es, Menschenrechte würden nur mangelhaft gewährleistet. Insbesondere von gravierenden Rechtsverletzungen zu Lasten von Frauen und Mädchen ist die Rede. Auch »Unzulänglichkeiten« bei Teilen der afghanischen Sicherheitskräfte schlügen sich in Form von Übergriffen gegenüber der Bevölkerung nieder. Sicherheitskräfte, die nach Angaben von der Leyens viel gelernt hätten und nun erfolgreicher agieren würden.
Wie verheerend die Lage vor Ort tatsächlich ist, darüber gibt es nur vage Informationen. Die Linksfraktion hat in einer Großen Anfrage Aufklärung über die Folgen des Kriegs gegen den Terror in Afghanistan, Pakistan und Irak gefordert, über die direkten sowie indirekten Opfer. Darüber, so ist der Antwort zu entnehmen, weiß die Bundesregierung jedoch nichts. Es lägen »keine Erkenntnisse zu der Zahl der in Afghanistan durch direkte Kriegsfolgen verursachten zivilen Opfer vor«, heißt es. Ebenso wenig über die Getöteten durch Drohnenangriffe. Auch über indirekte Opfer, also solche, die kriegsbedingt keinen Zugang zu Nahrung, Trinkwasser oder medizinischer Versorgung hatten, kann die Regierung keine Auskunft geben, da »die Komplexität sich gegenseitig beeinflussender Faktoren, die in Konflikt- und Postkonflikt-Situation Leben und Gesundheit von Zivilpersonen bedrohen sowie die Schwierigkeit einer belastbaren Zuordnung indirekter Kausalitäten und die Schwäche statistischer Institutionen in diesem Umfeld« zuverlässige Erkenntnisse nicht zuließen.
Der Arzt Christoph Krämer von der Friedensorganisation IPPNW erklärt angesichts dieser Rechtfertigung, die afghanischen Behörden seien zwar nicht in der Lage, ein eigenes Monitoring durchzuführen. Das sei aber von den ausländischen Kriegsparteien offensichtlich auch nicht gewollt. Er fordert unabhängige Untersuchungen durch aktive repräsentative Befragungen. Die Antwort der Bundesregierung: Überlegungen für die Einführung eines umfassenden Dokumentationsverfahrens bestünden nicht.
Üblicherweise werden Opferzahlen während laufender Kriegshandlungen mittels sogenannter passiver Methoden ermittelt. Darunter zählen beispielsweise Polizeiprotokolle, Krankenhausregister oder ausländische Agenturmeldungen. Bei aktiven Methoden, wie sie Krämer fordert, wird durch Nachforschungen vor Ort, beispielsweise über Befragungen versucht, alle Opfer einer Region zu erfassen. In dem »Body-Count«-Report von 2015, der unter anderem von der IPPNW herausgegeben wurde, werden auch solche Befragungen einbezogen und mit anderen Opferschätzungen verglichen. So kamen der Untersuchung zufolge im Irak etwa eine Million, in Afghanistan rund 220 000 und in Pakistan 80 000 Menschen direkt oder indirekt durch den Krieg zu Tode. Wobei es nur für den Irak aktive Untersuchungen gibt, bei denen die ermittelten Opferzahlen oft um ein Vielfaches höher liegen als bei passiven Auswertungen. Angesichts der sehr unterschiedlichen Zahlen je nach Untersuchung und Methode ist im »Body Count«-Report von einem Zahlenkrieg die Rede. »Die heftig geführte Diskussion um Opferzahlen ist ein wesentlicher Teil der Auseinandersetzung um die Zustimmung der Bevölkerung zu solchen Interventionen«, heißt es dort. Krämer meint: Wenn man solche Kriege führe, müsse man die Folgen vor Ort kennen und beantworten können, ob der Nutzen die riesigen Schäden rechtfertige.
Ob sich diese Frage selbst mit gut geschätzten Opferstatistiken beantworten lässt, scheint fraglich. Denn noch schwieriger als valide Zahlen ist das Sammeln von Informationen, welche Akteure in welchem Ausmaß für das Leid verantwortlich sind. In einer Studie von 2006, die Befragungen von 2000 irakischen Haushalten ausgewertet, kam heraus, dass etwa 30 Prozent der Opfer von Besatzungsgruppen getötet wurden, bei über der Hälfte der Toten war die Urheberschaft unbekannt. Die Autoren des »Body-Count« wie auch LINKEN-Politiker lösen das Problem einfach - sie sehen »den Westen« in der Verantwortung für alle Folgen.
Von den Bündnispartnern selbst gibt es keine größeren Auswertungen, so liegt beispielsweise bis heute keine umfassende Evaluation der NATO zur ISAF-Mission vor. Genauso wenig zu den Fragen: Warum ist die Lage nach 15 Jahren in Afghanistan so instabil? Welche Fehler wurden gemacht?
Im vergangenen Jahr schrieben vier ehemalige Mitglieder der US-Luftwaffe einen offenen Brief an Barack Obama, in dem sie den Drohnenkrieg als »eine der verheerendsten Triebfedern des Terrorismus« bezeichneten. Und der damalige Chef der Special Forces, Mike Flynn, erklärte, ohne den Irakkrieg würde es den »Islamischen Staat« heute nicht geben. Auch zu solchen Vermutungen verweigert die Bundesregierung in ihrer Antwort jede Einschätzung.
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