Hypnose bei Bewusstsein
Georg Stefan Troller - eine Reporterlegende wird 95
Immer ist das eigene Leben eine Reihe von Wendepunkten, an denen etwas passierte, das keinesfalls zwangsläufig war. Aber wir sind nun einmal das, was mit uns, in uns, durch uns, gegen uns geschah - wie steht dies im Verhältnis zu dem, was nicht hätte geschehen müssen, und wie wird angesichts dessen unser Leben wirklich so erzählbar, dass sich Selbstgestaltung behaupten und möglicherweise sogar Logik belegen lässt? Vielleicht sogar beabsichtigter Sinn?
Georg Stefan Troller, der große, biografiegefräßige Personenbeschreiber des deutschen Fernsehens (»Pariser Journal«), sann sein Berufsleben lang der Frage nach, wie viel Ehrlichkeit eine Kamera erschaffen kann, die auf einen erzählenden Menschen gerichtet ist. »Tagebuch mit Menschen« untertitelte er eines seiner zahlreichen Bücher. Wie vertragen sich beim Reporter Feinfühligkeit und Indiskretion, wie Respekt und forschende Hartnäckigkeit? Im Grunde hat er nie daran geglaubt, dass Recherche das alles ergründende Instrument sei. Er sah das wahre Schöpfertum im antizipatorischen Talent, dem keine Lehrzeit auf die Spur kommt: Du findest nur, was in dir angelegt ist; vertrau demnach einem Instinkt, der dich führen wird. Sei also Boheme, sei leicht, lass dich von nichts zu sehr beschweren!
Wer diesen Journalisten mit seinem Haarzopf, dem prächtigen Schnauzbart, der Pfeife im Mund, dem Trenchcoat sah, der sah das Reporterklischee, der sah raumgreifende Männlichkeit, der dachte an Abenteuer und Kaschemmen, an Caféhäuser und Wildnisse, der ahnte die Sensationen des Exotischen, des Extravaganten. Die Stimme ganz aus Wiener Schmäh, eine Melange der Melancholie mit der Ironie. Aber Troller selbst, dieser Porträtist der Weltprominenz aller Kontinente, dieser Flaneur, dem alles Flair wurde, dieser Stromernde durch Glamour und Gosse, er betrachtete sich nur als »trotzig bemühten, im Urvertrauen beschädigten Nachahmer« - eben jener boulevardesken Unbeschwertheit, die dem Wiener Juden früh genommen wurde. Verfolgung durch die Nazis und Emigration - eine lebenslang wirkende Beeinträchtigung. Ich lebe »auf dem Rücken der Ermordeten«.
Der Siebzehnjährige war 1938 nach Prag geflohen, später nach Paris und Südfrankreich. 1941 gelang ihm die Überfahrt nach Amerika. Das Leben dort wie unter Lähmung. Die Einberufung in den Zweiten Weltkrieg wird zur Erlösung. Die deutsche Sprache macht ihn zum Vernehmer von Wehrmachtssoldaten. Die schlotternden Landser als Feinde? Sie betteln um Freundschaft, wollen selber nach Amerika. Troller fühlt sich um seinen Hass betrogen, der Österreicher ist überfordert in seiner Doppelrolle als Eroberer und Heimkehrer.
Der Mann vom Jahrgang 1921 liebt die paradoxe, die schwerkraftfreie wie fleischfrönende Ästhetik Shakespeares, er mag die anarchische Kraft des deutschen Sturm und Drang. Er wollte Theaterautor werden, wäre gern wie ein elegischer Arthur Schnitzler gewesen, ein Tschechow an der Donau. Und wurde - Troller an der Seine. Seit 1949 lebt er in Paris. Der Amerikaner, der zurück nach Europa gekommen war und per Television den fleißigen Deutschen französischen Esprit, den wackeren Teutonen das Perlen aller nur möglichen Leichtsinne, den planfesten Germanen den Roulette-Charakter des Lebens offenbarte.
Er wurde ein bezwingender Filmschöpfer, »verfilmte« Hunderte. Simone Weill, Liv Ullmann, Peter Handke, Charles Bukowski, Muhammad Ali, Alain Delon - Menschen, die eine Idee leben; Besessene, die in der grundsätzlichen Fremdbestimmtheit unser aller Existenz eine kantige Freiheit behaupten; als schmerzheitere und lustgepeinigte Egoisten mit Weltsinn. Ja, Typen! Die ihren Weg gehen, der vor allem schwankender Boden bleiben muss. Und die denen aus dem Weg gehen, die einen Charakter so gern eingemeinden wollen ins konsensfähig Gemäßigte, in das, was sich ziemt.
Bei Simone Weil heißt es: »Jedes Wesen ist ein stummer Schrei danach, anders gelesen zu werden.« Das ist Trollers Motto gegen die ideologische Gefahr eines aufklärerischen Journalismus, der aus pädagogischer Absicht soziologisch verarmt und vertrocknet. »Das Chaos der Welt wird einem ja immer fremd bleiben.« Das Filmen und Schreiben wird ihm zum Ausweg aus der Unlösbarkeit des Daseins, aus den täglichen und nächtlichen bedrückenden Träumen. Auch wer sich publizistisch noch so politisch kämpferisch gibt, »er sollte möglichst nicht unterschlagen, dass er trotz sämtlicher Solidar- und Gesinnungsposen vor allem auf der Suche nach einer Idee von sich selber ist. Also einsam.«
Er nahm im Idealfall Beichten ab und erteilte vor laufender Kamera Absolution fürs Anderssein. Hypnose bei hellstem Bewusstsein. Die Wahrhaftigkeit seiner gelungensten Filme besteht in einer Wirkung jenseits des Konzepts. »Meine Rührung zeigen, meine Erschütterung? Die Wahrheit ist, dass ich dazu nicht bereit bin. Weil ich nicht will, dass man von mir etwas erfährt.« Von diesem Leben aus Todesangst und Lebenslust. Holocaust und Hollywood. In fremde Abgründe tauchen, um sich des eigenen zu vergewissern. »Jeder ist doch auch Gangster und Nutte, Banker und Boxer, Ketzer und Mystiker in einem.« Er achtete bei Diktatorengattinnen auf schöne Hände, war bezaubert, wenn Mörder Gedichte rezitierten. Und also schaust du diese Filme, liest diese Bücher - und hinterm Spiegel des jeweiligen Porträtbildes formt sich die Kontur eines verletzlichen, porenoffenen Publizisten, dem die Gerbkräfte des Jahrhunderts nahezu alles angetan haben und doch nichts anhaben konnten: Georg Stefan Troller. An diesem Sonnabend wird er 95 Jahre alt.
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