An den Taten messen
Deborah Herold über Rot-Rot-Grün
Die Mitglieder der Linkspartei haben entschieden. 89,3 Prozent stimmten für den rot-rot-grünen (R2G) Koalitionsvertrag. Vieles darin klingt gut. Anderes bleibt sehr unambitioniert. Ob ein fortschrittliches Regierungsprojekt gelingt, hängt außerdem davon ab, ob R2G eine Allianz mit den Akteuren der Stadtgesellschaft eingeht. Beim Lesen des Koalitionsvertrages lässt sich feststellen, dass sich vor allem dort progressive Forderungen durchgesetzt haben, wo es innerhalb der letzten Jahre Druck von der Straße gegeben hat.
Das zentrale Thema in Berlin ist und bleibt »Mieten und Wohnen«. Kein Wunder in einer Stadt, in der seit 2010 die Mieten um 26 Prozent gestiegen sind und rund 100 000 Sozialwohnungen fehlen. Die wirtschaftsfreundliche Politik der letzten Jahre, in der kommunale Wohnungsunternehmen zu Schleuderpreisen privatisiert wurden, haben Berlin in diese Krise geführt. Die Ziele, die sich R2G gesetzt hat, um in dieser Situation einen Kurswechsel zu ermöglichen, halten wir für ungenügend: In den nächsten fünf Jahren soll der öffentliche Wohnungsbestand lediglich um 55 000 zusätzliche Wohnungen erhöht werden, wovon wiederum nur 15 000 neugebaute Sozialwohnungen sind. Zeitgleich werden in den nächsten fünf Jahren jedoch durch das Auslaufen der Bindungen im bestehenden sozialen Wohnungsbau mindestens 20 000 bisherige Sozialwohnungen verloren gehen.
Der Bereich Geflüchteten- und Asylpolitik gehört zu den großen Kontroversen rund um die Regierungsbeteiligung der LINKEN. Der Koalitionsvertrag enthält wichtige Punkte wie die Erleichterung des Familiennachzuges, den Verzicht auf eine Wohnsitzauflage für Geflüchtete und das Vorhaben, sich im Bundesrat für eine humanere Asylpolitik einzusetzen. Außerdem verfolgt die Koalition ein Konzept, mit dem die Unterbringung geflüchteter Menschen dezentral in Wohnungen gewährleistet werden soll.
Was Abschiebungen betrifft, so sollen »Rechtliche Möglichkeiten zugunsten der Geflüchteten ausgeschöpft werden«. Sicher ist aber, dass Berlin weiter abschieben wird und sich so zwangsläufig zum Handlanger der rassistischen Bundesgesetzgebung macht.
Im Koalitionsvertrag findet sich der Wunsch nach einem gerechteren Bildungssystem, in dem schulische Erfolge nicht vom Elternhaus abhängig sind. Gemeinschaftsschulen sollen »qualitativ und quantitativ weiterentwickelt«, die »Heterogenität der Schüler*innen soll positiv aufgenommen« und »interkulturelles Zusammenleben« soll unter anderem im Bereich der Mehrsprachigkeit gefördert werden. Diese Richtung halten wir für die Richtige, leider bleiben jedoch die gemachten Schritte viel zu zaghaft.
Es bräuchte eine grundsätzliche Abkehr vom mehrgliedrigen Schulsystem, hin zu einer inklusiven Schule für alle. Eine Regierung, die sich mit dem Bildungssystem an sich nicht anlegt und längst überfällige Reformen, wie die Abschaffung des Probejahrs am Gymnasium, nicht tätigt, verpasst die Möglichkeit, die Schule grundsätzlich zu einem gerechteren Ort zu machen.
Wir als Jugendverband mit rot-rotem Erfahrungshintergrund stehen der Regierungsbeteiligung der Linkspartei und dem Koalitionspapier skeptisch gegenüber, was nicht heißt, dass wir uns nicht gerne vom Gegenteil überzeugen lassen. Doch Papier ist geduldig, und die Erfahrung zeigt, dass ein Koalitionsvertrag und die reale Arbeit einer Regierung zwei verschiedene Dinge sind. Wir werden Rot-Rot-Grün an seinen Taten und nicht an seinen Vorhaben messen. Ob es gelingt, für sichtbare Veränderungen zu sorgen, werden die nächsten fünf Jahre zeigen. Notwendig sind sie allemal!
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