»Dann häng ich lieber ab«
Die Zahl der Straßenkinder steigt / Experten beklagen Kürzungen bei Hilfsprojekten
Die Kinderhilfsorganisation terre des hommes verweist auf die gestiegenen Zahlen von Straßenkindern in Deutschland. Betreuungseinrichtungen beklagen die Kürzungsmaßnahmen in diesem Bereich der Sozialarbeit.
Eigentlich hatte sich Dennis vorgenommen, nach der Förderschule eine Ausbildungsstelle als Maler zu bekommen. Lange Zeit schien es in der Schule auch zu klappen. Er kam regelmäßig und bemühte sich um eine gute Mitarbeit. Doch als sein Vater immer nur Absagen auf seine Bewerbungen bekam und anfing zu trinken, da »wurde unsere Dreizimmerwohnung einfach zu klein«, beschreibt Dennis den Wandel in seiner Familie. Zu viert auf 50 Quadratmetern - da fiel ihm zunehmend die Decke auf den Kopf. Zuflucht suchte er fortan auf dem Hamburger Dom, der großen Kirmes in Hamburg. »Dann häng ich lieber da ab, als meinen schreienden Vater zu ertragen«, erzählt der 16-Jährige. Das Abhängen auf dem Dom - die Anlaufstelle KIDS für Hamburger »Straßenkids« kennt diese Form der Freizeitbeschäftigung ziemlich genau. Um die 100 Jugendlichen im Alter zumeist zwischen 14 und 18 Jahren betreuen die Straßensozialarbeiter des Projektes jährlich auf dem Dom. »Die Jugendlichen verbringen die Zeit von früh bis spät auf dem Dom und ziehen dann weiter auf den Kiez«, beschreibt Meent Adden von KIDS die Situation. Dennis ist einer von ihnen - für die Schule bleibt da kaum noch Platz und auch seine Ziele sind in weite Ferne gerückt. Er ist eines der »Straßenkinder«, auf die die Kinderhilfsorganisation terre des hommes unlängst hingewiesen hat. Rund 7000 gebe es in Deutschland, so druckten es viele Medien. »Die Zahl ist zum einen viel zu niedrig und zum anderen viel zu alt!«, rückt der Experte Uwe Britten die Zahl zurecht. Seit Jahren erstellt er die Statistiken für terre des hommes, macht Umfragen und sammelt Erfahrungsberichte. »Die Zahl 7000 wurde noch unter CDU-Familienministerin Claudia Nolte Ende der Neunziger geschätzt«, sagt Britten. Nach seiner Umfrage unter Hilfsprojekten in Deutschland kommt er auf eine Zahl von etwa 9000 Jugendlichen, die Hilfsmaßnahmen in Anspruch nehmen. »Die Dunkelziffer liegt allerdings bei 20 000!«, fügt er ergänzend hinzu. Die meisten von ihnen leben in Großstädten. Verwirrend nennt Britten auch den Begriff »Straßenkinder«. Die meisten von ihnen sind Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren und die wenigsten sind wirklich obdachlos. »Nur sehr wenige Jugendliche schlafen wirklich auf der Straße - die meisten leben zu Hause, bei ständig wechselnden Bekannten oder in Jugendwohneinrichtungen«, erklärt Meent Adden die Situation. Aber fast alle 350, die sich jährlich an KIDS wenden, verbringen ihr Leben in ähnlichen Abläufen: die Schule besuchen sie fast nie, und den Tag über hängen sie auf der Straße oder in Einkaufszentren herum. Der Großteil von ihnen kommt aus sozial sehr instabilen Verhältnissen. Erfahrungen mit Drogen und Prostitution kommen oft hinzu. Die sozialen Kürzungen der letzten Jahre haben die Situation deutlich verschärft. »In den sowieso schon ärmeren Familien steigt der Druck zunehmend«, warnt Uwe Britten. Er mahnt dringend mehr Personal für die Betreuung der Jugendlichen an. Der Bereich sei sehr betreuungsintensiv und lebe von kontinuierlichen Beziehungen. Die Anlaufstelle KIDS kennt die Kürzungswut der Politik nur zu gut. »Im Jahr 2002 wurde unser Etat um 10 Prozent gekürzt und dann 2004 noch einmal um 25 000«, sagt der Leiter der Einrichtung Adden. Das heißt im Klartext: kürzere Öffnungszeiten und zweieinhalb Stellen weniger für Sozialarbeiter. Und auch die Jugendlichen selbst haben Angst. »Einige von ihnen sind dem Druck der ARGE und Hartz IV nicht gewachsen - sie resignieren und nehmen Kürzungen in Kauf«, so Adden. Das fehlende Geld besorgen sie sich dann eben über die Prostitution oder illegal. Mit Drogen will Dennis nichts zu tun haben. Er träumt von einem eigenen ruhigen Zimmer und könnte sich dann...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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