»Militärische Besatzung Afghanistans beenden«

Selay Ghaffar über die Bilanz der USA und der NATO am Hindukusch

  • Harald Neuber
  • Lesedauer: 4 Min.

Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat unlängst erklärt, die NATO habe ihren Operationsplan in Afghanistan »überprüft«, um »die erreichten Fortschritte zu vertiefen und abzusichern«. Sehen Sie auch einen Fortschritt in Afghanistan?
Einige der mächtigsten Staaten der Erde intervenierten 2001 in Afghanistan, um, wie sie sagten, »die Frauen zu befreien« und »gegen den Terror« zu kämpfen. Aber trotz der schätzungsweise 250 000 getöteten Menschen in Afghanistan und Dutzenden Milliarden US-Dollar, die aufgewendet wurden, leiden die Menschen unter den gleichen Missständen. Also, nein, ich teile dieses Urteil nicht.

Schon im Jahr 2001 haben sich die USA und Großbritannien im Kampf gegen die Taliban der brutalen Warlords der Nordallianz bedient. Damals finanzierten und bewaffneten sie zudem Kriegsverbrecher wie Atta Mohammad Noor oder Abdul Raschid Dostum, um gegen die Taliban zu kämpfen, obwohl diese die gleichen Verbrechen gegen Zivilisten begangen haben. Am 3. März 2015 hat Human Rights Watch einen detaillierten Bericht über Warlords in hohen Staatsposten veröffentlicht, die ihre Macht und ihre Milizen benutzen, um mit Drogen zu handeln, Menschen zu entführen oder sich wertvollen Landes zu bemächtigen. Noor, der Gouverneur der Provinz Balch, ist einer von ihnen.

Zur Person

Selay Ghaffar ist in Afghanistan vor allem als Frauenrechtsaktivistin bekannt geworden und hat unter anderem an der vom UN-Menschenrechtsrat erstellten Universellen Periodischen Überprüfung der Menschenrechtslage in ihrem Heimatland mitgewirkt. Sie ist zudem Sprecherin der oppositionellen Solidaritätspartei Afghanistans.

Wie stehen Sie der NATO-Mission Resolute Support gegenüber, der Folgemission von »Enduring Freedom«?
US- und NATO-Kräfte haben in Afghanistan ja wiederholt Kriegsverbrechen begangen. Am 3. Oktober 2015 wurde ein Krankenhaus der Ärzte ohne Grenzen bombardiert. Am 8. August 2015 wurden durch US- bzw. NATO-Luftangriffe in Shah Shahid bei Kabul mehr als 300 Zivilisten getötet und 600 verletzt. Am 22. August 2008 sind Kinder von US-Bomben auf Shindand bei Herat getötet worden. Es gibt viele weitere Beispiele. Amnesty International verweist darauf, dass zivile Opfer bei den internationalen Militäroperationen in Afghanistan oft nicht statistisch erfasst werden.

Die deutsche Regierung sagt, dass die NATO nicht direkt interveniere, sondern afghanische Kräfte im Kampf gegen die Taliban unterstütze. Ist das ein Fortschritt?
Nein, denn die deutschen Truppen hatten schon immer Verbindungen zu Atta Mohammad Noor, dem selbst ernannten Herrscher der Provinz Balch im Norden von Afghanistan. Bewohner der Provinz Kundus haben mehrfach beklagt, dass das deutsche Militär dort mit bewaffneten Oppositionskräften und Taliban in Kontakt stehe. Die italienischen Militärs unterhalten enge Kontakte zu einem der brutalsten und extremistischsten afghanischen Warlords in Herat: Ismail Khan. Und der jüngste, sehr detaillierte Bericht der Frauenrechtsorganisation RAWA führt die Veruntreuung von Wiederaufbaugeldern aus Italien in ihrer Provinz, Badakhshan, auf. Verantwortlich dafür sei Fawzia Koofi, eine Abgeordnete, die von Warlords unterstützt wird.

Der letzte Bericht von Generalsekretär Ban Ki Moon an die UN-Vollversammlung führt tatsächlich zahlreiche Probleme auf und verweist auf die hohe Zahl ziviler Konfliktopfer. Wie steht es um die Rechte von Frauen?
Wie in jedem Konflikt gehören Frauen und Kinder zu den ersten Opfern. Trotz des US-Slogans der »Befreiung der Frauen«, der die Invasion in Afghanistan begleitet hat, ist die Lage weiter katastrophal. Sie haben nur einen beschränkten Zugang zum Bildungs- und Gesundheitswesen. Sie werden im Falle von Vergewaltigungen in der Regel gezwungen, ihre Vergewaltiger zu heiraten.

Im Konflikt mit den Taliban wenden Sie sich entschieden gegen Friedensgespräche. Warum?
Am 22. September dieses Jahres kam Gulbuddin Hekmatyar, der sich als »Schlächter von Kabul« einen Namen gemacht hat, in den Genuss einer Amnestie, das war Teil des sogenannten Friedensabkommens zwischen seiner Partei, Hezb-e-Islami, und der Regierung. Entsprechende Gespräche mit den Taliban laufen auch schon. Die Solidaritätspartei Afghanistans ist der Überzeugung, dass Gerechtigkeit nicht dem Frieden geopfert werden kann. Wenn Hekmatyar und die Taliban Teil der Regierung werden, gibt es keinen Frieden, der Kreis der Kriminellen wird dann nur größer sein.

Sie sind also für die Fortführung und Verschärfung des Kampfes gegen die Taliban?
Es gibt den verschärften Kampf ja schon, dennoch werden diese Kräfte immer stärker und weiten ihre Kontrolle auf immer neue Städte aus. Wir wollen vor allem, dass die USA und die NATO ihre Hilfe für die Taliban, die sie fortführen, um ihre Präsenz in Afghanistan zu rechtfertigen, einstellen. Aber auch Russland, Iran, China und Pakistan unterstützen andere Strömungen der Taliban, um ihre politische Agenda umsetzen zu können. Den Preis für diese Politik müssen die Menschen in Afghanistan zahlen.

Was ist also zu tun?
Die militärische Besatzung Afghanistans muss beendet werden, Kriegsverbrecher müssen vor ein internationales Gericht gestellt werden und die Finanzierung von Warlords innerhalb und außerhalb der Regierung muss ein Ende haben.

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