Ruhelose Lustmalerei gegen herrschende Lethargie

Eine waffenstarrend einstürzende Welt - Sighard Gilles bisheriges Lebenswerk im Museum der bildenden Künste Leipzig

  • Harald Kretzschmar
  • Lesedauer: 5 Min.

Bis jetzt hieß es, ins Gewandhaus zum Konzert gehen, um die Lustmalerei des Farbwühlers Gille zu erleben. Jetzt biegt man vom Markt ab, lässt des senil gewordenen rheinischen Großfürsten der Malerei, Lüpertz, Beethoven gewidmetes skulpturales Monstrum links stehen, und stemmt die gewaltige Tür des Bildermuseums auf. In die Tiefe des Leipziger Urgrundes herabgestiegen, hat man die Bildwerke des Malers Sighard Gille vor Augen.

Ja, so ist es halt - die Höhen der eigentlichen Leipziger Malerei werden zumindest örtlich im Untergrund dieses Museums erstürmt, dort, wo bereits Bernhard Heisig und Neo Rauch erlebbar waren. Das mit dem Erstürmen war gerade Mode, als der 1941 in Eilenburg nahe Leipzig Geborene drei Jahrzehnte später als Ölbildmaler von einiger Besonderheit auffällig wurde. Gemaltes war plötzlich gefragt. Besonders, wenn man als Heisig-Schüler die Szene betrat. Angefreundet und angefeindet, wie sich das gehört. Den eigentlichen Durchbruch in der Wahrnehmung durch ein größeres Publikum schaffte er 1977 mit dem Doppelbild von der »Brigadefeier« und den »Gerüstbauern« auf der Zentralen Kunstausstellung.

Eine mal leisere, mal lautere Erotik war dazumal im Schwange, als die jungen Maler den Pinsel über die Farbhimmel gleiten ließen. »Die Fähre« hieß die nacktfreudige Umarme des unterm Sturmgetöse liebenden Künstlerpaares. Der Aachener Millionär Peter Ludwig durfte das käufliche Malprodukt westwärts entführen. Fortan war Gille mit Anerkennung auch aus dieser Himmelsrichtung geadelt. Mit Frau Ina war ihm eine jugendlich-weibliche Koryphäe der Kunstwissenschaft zugeflogen, die es mühelos mit den qualifizierten Gattinnen anderer Leipziger Malgrößen aufnehmen konnte. Er war wer, und so bildete 1979 »Fete in Leipzig« den illustren Kollegenkreis flott gemalt ab. Und alle Welt sah: Siehe da, das ist ja ein exzellenter Porträtist, der in charakteristischer Gestik Haltungen entdeckt.

Seitdem reißt die Abfolge von Selbst-, Paar- und Freundesbildnissen nicht mehr ab. Gille hat die Fähigkeit, sich selbst in verrücktesten Verkleidungen und absurdesten Behütungen immer wieder neu zu sehen. Und schreckt vor der Ausdehnung zum größeren Format keineswegs dabei zurück. Er erkennt intuitiv die Eigenart gewisser Partnerbeziehungen, um sie jeweils recht spontan farbintensiv auf die Leinwand zu zaubern. In verwinkelter Gebärdensprache gegebenen Einzelporträts tobt sich seine »sarkastische Extrovertiertheit« aus, die der Hamburger Kunsthistoriker Uwe M. Schneede an ihm diagnostiziert. Positionen eigenwilligster Art aufspürend, wird er immer fündig. Nie todernst, fasst er selbst wollüstige Akte als heiter stimmende Körperbildnisse auf.

Aber damit befassen wir uns bereits mit der permanenten Fortsetzung lediglich eines einzigen Handlungsstranges des gemalten Welttheaters à la Gille bis in die Gegenwart. Und haben die Jahre 1979 bis 1981 und damit die größte und wichtigste Inszenierung dieses Kunstschöpfers ausgespart. Ein absoluter Glücksfall der Kunstgeschichte, und grandioser Gipfelpunkt des Auftragswesens zu DDR-Zeiten. Die Fakten: Kurt Masur, genialer Orchesterlenker von Gewandhaus-Gnaden, gewinnt Erich Honecker, den fatalen Beherrscher des Partei-und-Staatswesens, als Partner und Geldgeber für den innovativen Bau eines wahren Musik- und Kunsttempels. Die bildende Schwesterkunst von Frau Musica darf sich dabei üppig entfalten.

Und Gille wagt die komplette Bemalung des weit ins Foyer hineinragenden Unterbodens des Konzertsaales. 712 Quadratmeter bemalte Fläche in drei Abstufungen. Vital improvisiert als optische Umsetzung des Werkes eines akustisch im Hause präsenten Tonschöpfers: Gustav Mahler. Das Gewandhaus Leipzig zeigt sich seitdem als innen und außen vom musikalischen Geist und vom Baukörper her komplettes Raumerlebnis unerreicht. Diese Stadt Leipzig hat die letzten drei Jahrzehnte weder architektonisch noch bezüglich künstlerischer Ausgestaltung Vergleichbares auf die Beine gestellt. Es herrscht eine schleichende Lethargie, die durch die Herbeiholung drittklassiger Skulpturversuche von Marktstars des Westens wie Balkenhol und Lüpertz nur noch peinlicher wird.

Man muss doch nur in die Ateliers der hier lebenden und hier gewachsenen Künstler gehen, um menschlich und künstlerisch Bewegendes zu finden. Jenseits der Riesenbilder des seine hoffnungslos verrätselte Bildmetaphorik ständig der Marktnachfrage anpassenden Neo Rauch, so edel sie farbig daherkommen, gibt es eine viel lustvoller farbschwelgerisch überbordende Malwelt. Und die heißt eben unter anderem Sighard Gille. Einst war das Ehepaar Ludwig Signalgeber für ein gesamtdeutsches Kunstbewusstsein. Selbst heute noch ist nur die Ludwig-Stiftung fähig, den Katalog dieser Ausstellung als opulentes Schwergewicht zu finanzieren. Dieser bildet so gut wie das ganze malerische bisherige Lebenswerk ab. Meist sehr klein und auf den Ganzseiten im Ausschnitt wiederum riesig, bietet er die Quantität. Die Qualität der Bilder können wir nur als Besuchende der Ausstellung beurteilen.

Und da ist mit dem Startschuss der Installation von 1991 und dem Bild »Auswildern« eine künstlerische Freisetzung in den chaotisch-diffusen Gesellschaftsraum der gegenwärtigen Bundesrepublik zu verzeichnen. Der schon erwähnte Schneede bringt es im Katalog auf den Punkt: »Geprägt von dem einen System und freigestellt in ein anderes« agiere der Künstler Gille. »Klar will ich meine Zeit in Bilder fassen«, gesteht dieser selbst. Fast in Übergröße muss man heute daherkommen, um wahrgenommen zu werden, weiß er. Mit »Wende« sowie »Autokalypse« nimmt er die rasante Veränderung und Beschleunigung bei gleichzeitigem Stillstand wahr. Mit »Stern der Einheit« und »Vom Wir zum Ich« deutet er zweimal einen Slogan der Vergangenheit um. Es geht im mittlerweile weit geweiteten Lebensraum um die Fülle des erstrebten Wohllebens. »Nudeltisch«, 1996 das Fressen als Gierparabel, ist als in der unteren Hälfte völlig leere Komposition ein Sonderfall.

Der in der Gegenwart voll angekommene Künstler agiert überaus gegenwärtig - was wollen wir mehr? Inzwischen fast schon gewesenen, aber geistig ihm sehr nahen künstlerischen Weggenossen setzt er malerische Denkmäler. Mit den jüdischen Briten Auerbach, Hockney, Kitaj und Lucien Freud, den »Apokalyptischen«, sind es visionäre Realisten des elementar Menschlichen. Seine malerische Expansion überschlägt sich inzwischen fast. Nicht immer kann sie vom Bildformat gebändigt werden. Die Farben schreien zurück, wenn die Motive sie händeringend herbeisehnen. »Von großer Höhe« 2011 bis »Patt« 2015 - da bleibt nichts Brisantes ungemalt. Eine waffenstarrend einstürzende Welt, deren »West-östlicher Diwan« gerade im Orkus versinkt - das muss erst einmal einer malerisch anpacken. Gille tut es.

»Sighard Gille. ruhelos« - bis zum 22. Januar im Museum der bildenden Künste, Katharinenstraße 10, 04109 Leipzig

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