Investorenrechte vor Totenruhe?
Historiker widerspricht Senatsdarstellung zu Friedrichshainer Armenfriedhof
Für die Öffentlichkeit war es eine Überraschung. Bei Bauarbeiten auf dem Gelände zwischen Landsberger Allee und Pufendorfstraße in Friedrichshain wurde ein vergessener Armenfriedhof freigelegt. Bis zu 4000 Skelette fanden die Bauarbeiter im Erdreich unter dem ehemaligen Böhmischen Brauhaus. Viele von ihnen waren bei mehreren Choleraepidemien in Berlin im 19. Jahrhundert gestorben und auf dem Armenfriedhof beigesetzt worden. Er war 1831 eröffnet und 1881 geschlossen worden. Nachdem im Zuge der aktuellen Bauarbeiten die Gebeine im Erdreich wieder zum Vorschein kamen, gibt es Streit um den Umgang mit ihnen.
Die damals zuständige Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt erklärte Anfang Dezember in einer Pressemitteilung, ein Großteil der Gebeine werde nach einer Untersuchung auf einem Friedhof in Plötzensee beigesetzt. Ein kleinerer Teil solle für weitere Untersuchungen im Depot der Berliner Bodenfunde eingelagert werden. Die Kosten für die Umbettung trägt nach dem Gesetz der Investor des Bauvorhabens. In einem Passus geht die Senatsverwaltung auf die Choleratoten ein, die nicht in Einzelgräbern sondern in »dicht an dicht stehenden Holzkisten« beerdigt worden seien. »Hinzu kommt, dass die Gräber des Friedhofs und die Holzkisten ohne Deckel keine Kennzeichnung oder Grabmarkierung aufwiesen, so dass sich das Gelände für Außenstehende nicht als Friedhof sondern als grüne Wiese darstellte«, heißt es in der Pressemitteilung der Senatsverwaltung.
Dieser Darstellung widerspricht Wanja Abramowski vom Friedrichshainer Geschichtsverein Wolfgang Kohlhase. In Einzelfällen sei eine Mehrfachbestattung vorgekommen. »Doch die meisten Leichen sind in Einzelgräbern bestattet worden«, betont der promovierte Historiker, der sich seit Jahrzehnten mit der Friedrichshainer Lokalgeschichte beschäftigt.
»Folgt man der Logik und dem Text der Pressemitteilung, müsste auch der Friedhof der Märzgefallenen an der Landsberger Allee ein Massengrab sein, denn auf ihm wurden an einem einzigen Tag, dem 22. März 1848, in vier länglichen Doppelgrabreihen, in die dicht an dicht Särge verbracht wurden, 183 Revolutionsopfer beigesetzt«, kritisiert Abramowski die Erklärung der Behörde. Für den Geschichtsverein handelt es sich dabei nicht um einen historischen Disput. Er wirft der Senatsverwaltung einen würdelosen Umgang mit den sterblichen Überresten vor, um die Kosten für die Umbettung niedrig zu halten. »Mit einem vorgefundenen Knochenberg kann der Investor anders umgehen als mit tausenden Einzelgräbern, nämlich kostengünstiger«, sagt Abramowski.
Mit Verweis auf die aufwendige archäologische Suche nach den drei Kurfürsten-Gräbern von Johann Cicero, Joachim I. und Joachim II. auf dem Schlossplatz erinnert der Historiker daran, dass auch mehr als ein Jahrhundert nach ihrem Ableben nicht alle Toten gleich sind. »Für den Friedrichshainer Geschichtsverein ist der Umgang mit dem Armenfriedhof keine Frage der ordentlichen Gebeins᠆kisten oder der korrekten Bezeichnung historischer Sachverhalte«, betont Abramowski. Für ihn stellt sich die Frage, ob die Totenruhe den Investorenrechten geopfert wird.
Von der kritisierten Senatsverwaltung konnte bis Redaktionsschluss niemand zu den Vorwürfen Stellung nehmen. Grund ist die Aufteilung der Stadtentwicklungsverwaltung im Zuge der Senatsbildung. Für die Obere Denkmalschutzbehörde ist nun Kultursenator Klaus Lederer zuständig.
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