Blut + Milch = Österreich
50 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers erkundet Klaus Nüchtern den »Kontinent Doderer«
Für viele Literaturfreunde in Deutschland ist das Zeitalter der Entdeckungen längst noch nicht angebrochen, geschweige denn abgeschlossen. Ein ganzer Kontinent - seine Koordinaten sind bekannt und erschlossen ist er auch - harrt noch der lesenden Erkundung: Der Wiener Heimito von Doderer (1896 - 1966) ist schon einmal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen gewesen und in Österreich immer noch neben seinem keineswegs kongenialen Nachfolger Thomas Bernhard einer der beiden »Nationaldichter« der zweiten Republik. In Deutschland ist er nach kurzer Konjunktur seit einem halben Jahrhundert nahezu vergessen. Der Verlag C. H. Beck pflegt sein Werk und hält es lieferbar.
Pünktlich zum Gedenkjahr des 120. Geburtstages und des sich am 23. Dezember zum fünfzigsten Mal jährenden Todestages hat jetzt der Wiener Literaturwissenschaftler und Kritiker Klaus Nüchtern einen ungewöhnlichen Großessay vorgelegt: »Kontinent Doderer - Eine Durchquerung« heißt der schön gestaltete Band, der mit seinem kenntnisreichen und von kritischer Empathie gezeichneten Ritt durch das Prosaschaffen Doderers zweierlei schafft: Er vermittelt den »Heimitisten«, wie sich die Fans des k.u.k. Kavallerieoffiziers aus dem Ersten Weltkrieg augenzwinkernd nennen, den Genuss des Wiedererlebens, und er lädt zugleich Neulinge zur Ersterforschung eines literarischen Terrains ein, das seinesgleichen sucht.
Klaus Nüchtern, Jahrgang 1961, ist den Österreichern als Kritiker und Feuilletonist im »Falter« bekannt. Viele in Deutschland werden ihn aus seiner Zeit als Juror beim Ingeborg-Bachmann-Preis (2004 - 2008) von den Fernsehübertragungen kennen. Sein Wiener Metropolen-Ton passt zu Doderer, seine mit viele O-Tönen und längeren Zitaten durchwirkte akribische »Durchquerung« von dessen Werk wirkt zuweilen wie aus einem Guss - bis Nüchtern dann zu manchem Hieb auf Leben und Werkpassagen ausholt.
»Doderer at his worst« vermerkt der Autor an einer besonders peinlichen Stelle aus den »Dämonen«, in der sich verschüttete Milch und das Blut einer Erschossenen vor dem am 15. Juli 1927 brennenden Wiener Justizpalast zu den österreichischen Farben rot-weiß vermischen. Der Aufstieg des frühen NSDAP-Mitglieds Doderer zum mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur (1957) dekorierten »Nationaldichter« wird von Nüchtern mit deutlichen Worten über die Heuchelei und die von allem verdrängten Nazi-Unrat gereinigte Schubkraft des Kalten Krieges kommentiert.
Dazwischen lag die Veröffentlichung von Doderers Hauptwerk »Die Strudlhofstiege« (1951). Klaus Nüchtern begleitet diesen Roman wie auch fast alle anderen Werke Doderers mit akribischen, keineswegs akademischen Bemerkungen. Er nimmt seinem Publikum in einem auf das ganze Buch und Doderer einstimmenden Vorwort die Angst vor den Fußnoten, von denen einzelne wahre Schätze der Literaturkritik und der Doderer-Rezeption enthalten.
Ein »Who’s Who« der beiden wichtigsten Romane »Die Strudlhofstiege« und »Die Dämonen« führt durch den Dschungel von 390 Figurennamen, damit man den Überblick nicht verliert. Hier, wie in der ganzen Kontinentaldurchquerung, kommen die Liebhaber aller Nuancierungen des Wiener Humors auf ihre Kosten. Von elegant bis unverschämt reicht die Farbskala. Dadurch wird das ganze Buch zu einer großartigen erzählenden Literaturbelebung. Der Durchmesser des Kontinents Doderer ist riesig. Der Künstler Nüchtern bereitet allen ein ernstes Lesevergnügen, das wegen eines hin und wieder nicht zu unterdrückenden lauten Auflachens durchaus kurzweilig ist.
Klaus Nüchtern: Kontinent Doderer - Eine Durchquerung. C.H.Beck, 352 S., geb, 28 €.
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