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Der franziskanische Bodensatz

Gunnar Decker zeigt, was ein mittelalterlicher Armuts- und Verzichtsprediger uns heute noch zu sagen hat

  • Ingolf Bossenz
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist zweifellos einer der originellsten ersten Sätze der Weltliteratur - der erste Satz des ersten Bandes der Winnetou-Trilogie von Karl May: »Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Türke ein; dies hat, so sonderbar es erscheinen mag, doch seine Berechtigung.«

Ebenso hat es seine Berechtigung, dass mir immer, wenn ich an den heiligen Franz von Assisi denke, das Berliner Hotel »Adlon« einfällt. Dort war ich im März 2010 zum Interview verabredet mit Gianluigi Nuzzi. Der italienische Journalist und Schriftsteller hatte gerade sein erstes von inzwischen drei Enthüllungsbüchern über die monetären Machenschaften des Heiligen Stuhls veröffentlicht: »Vatikan AG«. Im Gespräch sagte mir Nuzzi, der sich als »optimistischer Katholik« bezeichnet, ungeachtet seiner Kritik an Geldwäsche, Korruption, dubiosen Geschäften der Vatikanbank sei er kein Befürworter einer armen, einer franziskanischen Kirche, wie eine solche Utopie in Erinnerung an Franz von Assisi, der als Prototyp des in freiwilliger und mittelloser Askese agierenden Armutsapostels gilt, auch genannt wird.

Im März 2010 regierte in Rom noch Papst Benedikt XVI., dem zu diesem Zeitpunkt nicht zuletzt wegen der undurchsichtigen Geldpolitik des Kirchenstaates der ganze Lateinladen um die Ohren zu fliegen drohte. Inzwischen ist er im Ruhestand und auf dem Stuhl Petri sitzt mit dem Italo-Argentinier Jorge Mario Bergoglio ein Mann, der als erster Papst den Namen des heiligen Franz angenommen hat und eine »arme Kirche für die Armen« beschwört.

Mithin, so könnte man meinen, am Ende doch eine veritable Erfolgsgeschichte - über 800 Jahre nach der numinosen Berufung des umbrischen Tuchhändlersohnes Giovanni Battista Bernardone zum verzichtenden Visionär Franziskus in der Nachfolge Christi. Doch es war vor allem eine Passionsgeschichte von Gründer und Gemeinschaft. Dass immer eine Vision blieb - mal mehr, mal weniger evident; oft verschüttet, noch öfter verfolgt - und bis ins Heute scheint, bis hinter die Leoninischen Mauern einer bis auf die gebleichten Knochen der Heiligen korrupten katholischen Kirche, das ist die eigentliche Leistung eines dem »Leistungsprinzip« zutiefst Abholden.

Gunnar Decker ist Religionsphilosoph und Autor außergewöhnlicher Biografien. Außergewöhnlich, weil seine Lebensbücher über Gottfried Benn, Franz Fühmann oder Hermann Hesse immer auch Großessays sind, die den Leser Welt und Welten der Protagonisten anschauen lassen und deren historische, politische und kulturelle Tektonik zum geistigen Klingen bringen. Es ist Welt-Anschauung im besten Sinne - und damit antagonistisch jeder Form von Ideologie. Mit »Franz von Assisi. Der Traum vom einfachen Leben« hat Decker ein Werk vorgelegt, dem das Epitheton »fantastisch« in dreifacher Hinsicht angemessen ist. Erstens: Eine dürftige und zugleich widersprüchliche Quellenlage, wie sie dem Leben und Wirken des 1181 oder 1182 in der umbrischen Stadt Assisi geborenen Heiligen († 1226) eignet, ist für einen Autor immer Herausforderung und Wagnis der eigenen Fantasie, die sich freilich strikt in den Grenzen kalkulierter Spekulation bewegen sollte. Zweitens: Das Unternehmen des spirituellen Aufstiegs vom großzügigen Playboy zum bettelnden Wanderprediger, die Verdammung von Geld und Besitz, gründet im Fantastischen, im Utopischen und Visionären. Und drittens: Das Buch ist - in Inhalt, Struktur und Stil - einfach fantastisch zu nennen; auch, wenn ein solches sprachlich-nostalgisches Urteil angesichts des grassierenden digitalen Denglisch antiquiert wirken mag.

»Dieses Buch«, so Gunnar Decker, »will keine Ordensgeschichte sein, sondern der Gestalt Franz’ von Assisi in ihrer kulturgeschichtlichen Dimension eine Kontur geben.« Dazu würden »jedoch auch einige ausgewählte Ausblicke auf die katholische Kirchengeschichte« gehören. Diese Einschränkung wirkt indes ein wenig wie Understatement. Denn in der Tat haben die Anhänger (und Gegner) des italienischen Idealisten seit ihrem ersten Auftreten bis zum aktuellen Pontifikat des jesuitischen Franziskus-Papstes die Una Sancta Catholica, außerhalb derer es »nulla salus«, kein Heil gibt, wie der heilige Cyprian von Karthago († 258) postulierte, gehörig gerüttelt und geschüttelt. Das Franziskanische blieb, wenn das Geschüttelte sich scheinbar geklärt hatte, immer Bodensatz - bereit, als störend-verstörendes Geflocke aufzusteigen. Der Kampf der Kirche um Vereinnahmung des Ordens (schon die Etablierung eines »Ordens« widersprach den innersten Intentionen von Franz) war immer Kampf um Nivellierung, um Verflachung und Verdrängung der revolutionären Essenz. Decker, der auch professioneller Handwerker des Journalistischen ist, zeigt diesen Kampf, der wie kaum ein anderer in der Kirchengeschichte die Dialektik von Erneuerung und Reaktion spiegelt, in einer objektiv-überzeugenden Zusammenschau der widersprüchlichen, teilweise diametralen zeitgenössischen Quellen und der nachfranziskanischen Literatur. Der Autor fügt das zwischen hagiografischer Verklärung und propagandistischer Verfälschung ikonografisch-irisierende Bild in einen beweglichen Rahmen, abhold allem Starren, Dogmatischen, Wahrheitswissenden. Er zeigt, wie eine »Avantgardebewegung zu einer restaurativen Kraft wird«. Die Franziskaner als willfährige und gnadenlose Vollstrecker der Inquisition an ihren eigenen Brüdern zeigen einen historischen Abgrund des genuin Revolutionären, den wohl erst das 20. Jahrhundert in seiner ganzen schmutzig-dunklen Tiefe offenbarte. Aber auch das Bewahren des Ursprünglichen wird deutlich: so in Aufkommen und Einfluss der Befreiungstheologie, deren Prägung maßgeblich durch einen Franziskaner erfolgte, den brasilianischen Theologen Leonardo Boff (* 1938). Decker stellt denn auch in Frage, dass sich »die Kraft einer Idee an ihrer gelingenden Umsetzung« misst. Wichtiger sei »vielmehr ihre anhaltende Strahlkraft, die immer noch Möglichkeitsräume inmitten einer geistig allzu eng gewordenen Wirklichkeit eröffnet«.

Was die Frage provoziert: Inwieweit geht uns Heutige der »Traum vom einfachen Leben« eines mittelalterlichen Möchtegern an, dem in seinem Reichtum zu wohl war, der Gott suchte und dafür auf Geld und Gut verzichtete? In unzähligen Hilfe- und Selbsthilfebüchern wird das »einfache Leben« beschworen, werden vermeintliche Wege aus Kauf- und Konsumwahn gewiesen. »Simplify your life« ist zu einem Markenslogan geworden, der das immer komplizierter und schwerer überschaubare Leben von Ballast befreien und zu einem von Harmonie und Balance bestimmten Dasein umwirken will. Wir haben schließlich mehr, als Franz von Assisi je sein Eigen nannte. Wir? Sind nicht die tagtäglichen Botschaften über die immer ärmer werdenden Armen und die immer reicher werdenden Reichen der Stoff, aus dem Sozialethiker, Parteipolitiker und Pauperismuspropagandisten ihre Studien, Programme und Manifeste schmieden?

Schaut man auf die Gründer großer Orden wie Franz von Assisi oder Ignatius von Loyola, der die Jesuiten etablierte, so sieht man auf Menschen, die Verzicht übten, die freiwillig Reichtum und Wohlstand, Ruhm und Ansehen fahren ließen für andere, vermeintlich höhere Güter. Aber was ist mit denen, die zum Verzicht gezwungen und von keiner hehren Haltung zum Armsein »erhoben«, sondern in dieses von den persönlichen und sozialen Umständen getrieben, gestoßen, geworfen wurden? Die nicht, wie während der römischen Saturnalien, als Herren einen Tag lang ihre Sklaven bedienen? Die nicht als erfahrungsgierige Manager einen Tag lang Obdachlosenzeitungen verkaufen? Was ist mit denen, die Jack London als »Menschen des Abgrunds« sah?

Tatsache ist: Armut wird von denen, die zwangsweise und wirklich arm sind, nicht als theologisch-philosophische Kategorie verstanden, sondern als Verdammungsurteil. Und es gibt als manierierten Mummenschanz die kultisch-populistische Simulation von Armut, die sich ohnehin nur Wohlhabende leisten können. Picasso packte das einmal in den treffenden Satz: »Ich würde gern leben wie ein armer Mann mit einem Haufen Geld.«

Worum es geht, und diese Sicht macht Gunnar Deckers Welt-Anschauungs-Buch allen diesbezüglichen Pseudoratgebern überlegen, ist nicht zuerst »eine romantische Grundhaltung, die sich an Franz von Assisi inspiriert«. Es geht um Nachdenken »über sinnhaftes Leben«. »Und um ein solches sinnhaftes Leben zu führen, ist es doch nicht so, wie es das sozialdemokratisch-gewerkschaftlich-kommunistische Selbstverständnis unisono meint, dass der Mensch erst aus seiner Armut befreit werden müsse, um ein ›vollgültiger‹ Mensch zu werden.« Vielmehr, betont Decker, müsse er »von einer bestimmten Form menschlicher Verarmung erlöst werden, die sowohl in einem gravierenden Mangel an Lebensmitteln als auch in ihrem maßlosen Zuviel liegen kann«. Eine solche Sicht, die sich plattem Politpathos ebenso entzieht wie belehrendem Besserwissertum, dürfte auch Franz von Assisi zu eigen gewesen sein. Sein in Denken, Reden und Handeln radikales Bild zwang er der Welt nicht als Vor-Bild auf. Sein von urchristlich (urkommunistisch?) inspirierter Egalität geprägtes Wirken machte nicht halt bei seinen menschlichen Mitgeschwistern. Tiere, Blumen, Bäume, ja, die (scheinbar) unbelebte Natur samt Sonne, Mond und allen Gestirnen gehörten der von ihm geachteten, geliebten, besungenen Einheitskraft göttlicher Schöpfung zu. Sein einzigartiger »Sonnengesang«, in dem Franz gleichsam als frühes Zeugnis ökologischer Apotheose Bruder Sonne, Schwester-Mutter Erde oder Bruder Feuer preist, zeugt von einem spirituellen und ethischen Überfluss, der unbeschadet die Jahrhunderte nach ihm durchzog. Es ist der Reichtum, den der Mann aus Assisi verschenkte.

Gunnar Decker: Franz von Assisi. Der Traum vom einfachen Leben. Siedler Verlag. 432 S., geb., 26,99 €.

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