Krieg bleibt Krieg

Eine Otto-Dix Ausstellung in Colmar zeigt Bezüge im Werk des expressionistischen Malers zum Isenheimer Altar

  • Ralf Klingsieck
  • Lesedauer: 4 Min.

Drei Jahre lang wurde das Museum Unterlinden im elsässischen Colmar, das mit seinem Anfang des 16. Jahrhunderts von Matthias Grünewald geschaffenen Isenheimer Altar weltbekannt ist, gründlich renoviert, durch Anbauten ergänzt und vergrößert. Als zweite Ausstellung seit der Wiedereröffnung ist derzeit eine Retrospektive von Otto Dix zu sehen, der in Frankreich bisher kaum bekannt war. Sie umfasst alle Epochen seines Schaffens, das sich vor allem mit Krieg, Leiden und Tod auseinandersetzt. Vor allem aber macht diese Ausstellung - hier, wo man sich leibhaftig davon überzeugen kann - Bezüge in Dix’ Werk zum Isenheimer Altar deutlich.

Der Altar wurde einst für das Isenheimer Kloster eines Bettelordens geschaffen. Zu ihm pilgerten Menschen, die an der durch Getreidepilze ausgelösten, sehr schmerzhaften und seinerzeit nicht behandelbaren Mutterkornvergiftung litten und die sich von dem Altar eine Wunderheilung erhofften. Während der Französischen Revolution wurde der Altar beschlagnahmt, nach Colmar gebracht und hier in einem ehemaligen Kloster ausgestellt. Nachdem das Elsass als Folge des Krieges von 1870/71 ins Deutsche Reich eingegliedert worden war, wurde der Altar nach München überführt und in der Alten Pinakothek ausgestellt. Dadurch wurde er in Deutschland bekannt und bald als eine »Verkörperung der deutschen Kunst schlechthin« gewürdigt.

»Die Bilder gehören zum Stärksten, was mir je vor die Augen kam«, notierte Thomas Mann in sein Tagebuch. »Mit seinen Farbenfanfaren, seinen tragischen Aufschreien, mit seinen gewalttätigen Apotheosen und wahnwitzigen Beinhausvisionen beschlagnahmt und bezwingt er uns«, schrieb der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans. »Man verlässt Grünewald und bleibt auf ewig in seinem Bann.«

Wie viele seiner deutschen Malerkollegen und vor allem jene, die wie er den Expressionismus vertraten, war auch Otto Dix vom Isenheimer Altar stark beeindruckt. Zwar weiß man nicht, ob er ihn in München selbst gesehen hat oder nur die farbigen Reproduktionen eines zu jener Zeit vom Piper-Verlag herausgebrachten Bildbandes kannte, doch es ist unzweifelhaft, dass er sich zeitlebens davon inspirieren ließ. Davon zeugen zahllose Referenzen und Zitate in seinem Werk bis hin zu ganzen Neuinterpretationen von Bildern Grünewalds, der stärker als andere Künstler des Mittelalters mittels religiöser Motive die Not und Qual von Menschen seiner Zeit darzustellen verstand.

Otto Dix hatte als Kriegsfreiwilliger den Ersten Weltkrieg bis zum bitteren Ende im Graben erlebt und daraus in den folgenden Jahren und Jahrzehnten die Motive vieler seiner Bilder geschöpft. Obwohl er nach eigenen Worten kein religiöser Mensch, sondern ein Realist war, griff er sehr oft zu Motiven und allgemein bekannten Episoden aus der Bibel, um über sie die Grauen des Krieges und das Leid seiner Opfer darzustellen. So wie der Jesus am Kreuz des Isenheimer Altars besonders große Nägel und Wunden an den Händen, Stacheln in der Haut von den Geißelungen und am ganzen Körper blutige Wunden hat, was von der völligen Zerstörung und Erniedrigung seiner menschlichen Natur zeugt, so sind auch Dix’ Kriegsszenen und die Antlitze von Verwundeten und Toten sehr anschaulich, detailgetreu-grausam und fordern regelrecht zum Mitleiden auf. Davon zeugen in der Ausstellung zahlreiche Radierungen und der originalgroße Schwarz-Weiß-Entwurf des 1923 entstandenen Bildes »Schützengraben«, das vom mutigen Direktor des Kölner Wallraf-Richartz-Museums angekauft und ausgestellt wurde, dann aber auf Druck reaktionärer Frontkämpfervereine wieder entfernt werden musste und seither verschollen ist.

Das berühmte, 1928-30 entstandene Triptychon »Der Krieg« ist in der Ausstellung - flankiert durch Entwurfszeichnungen - leider nur als große Reproduktion zu sehen, weil das Original wegen seines fragilen Zustands in Dresden bleiben musste. Dagegen ist das dritte große Werk dieser Art, das Gemälde »Flandern« von 1934-36, das gewöhnlich in Berlin hängt, in Colmar im Original zu sehen. Bei all diesen Werken erinnern die apokalyptischen Motive eindringlich an den Isenheimer Altar.

Die 1933 von den an die Macht gekommenen Nazis verfügte Entlassung als Professor der Dresdner Kunstakademie verarbeitete der Maler in dem anspielungsreichen Bild »Die Sieben Todsünden«, von dem in Colmar der schwarz-weiße Entwurf zu sehen ist. Als »entarteter Künstler« verfemt, durfte Dix, der sich in einen kleinen Ort am Bodensee zurückgezogen hatte, nur noch religiöse Bilder und Landschaften malen. Gegen Kriegsende zum Volkssturm eingezogen, geriet er 1945 in Kriegsgefangenschaft und in ein Lager in Colmar. Wie Briefe bezeugen, hat er hier zweimal den Isenheimer Altar gesehen, der sich seit Juni 1945 wieder in Colmar befand, nachdem er zuvor in einem Bergwerk eingelagert gewesen war. Aus dieser, bis Sommer 1946 andauernden Zeit im Lager Colmar, wo Dix malen durfte, stammen zahlreiche Skizzen aus dem Gefangenenalltag und Bilder mit religiösen Motiven, die einen eigenen Teil der Ausstellung bilden.

Abschließender Höhepunkt ist hier das Triptychon »Madonna vor Stacheldraht«, das im Auftrag der Militärverwaltung entstand und für die katholische Kapelle des Lagers bestimmt war. Seit einigen Jahren hängt es als Dauerleihgabe in der Kirche Maria Frieden in Berlin-Friedenau. Auch hier ist die Nähe zum Isenheimer Altar nicht zu übersehen. Während dort der heilige Sebastian und Antonius den Kranken Heilung in Aussicht stellen, wecken hier auf den Seitenflügeln Petrus und Paulus bei den Gefangenen Hoffnung auf eine baldige Entlassung.

Bis 31. Januar, Musée Unterlinden, Colmar

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