Jenseits des Frontverlaufs
Die Nachkriegszeit als globales Phänomen: »Postwar« im Münchener Haus der Kunst
Diktatoren stehen früh auf. Triumphal lässt Stalin sich von den ersten Strahlen der Morgensonne anleuchten, während hinter ihm Schornsteine und Strommasten ins Himmelblau aufwachsen. Ein schnauzbärtiger Schöpfergott in weißer Uniform, der sich seiner staatsmännischen Werke freut. Aber die Welt freut sich nicht mit ihm. 1946, als Fjodor Schjurpin das allegorische Hurragemälde aus der Moskauer Tretjakow-Galerie begann, lag nicht nur die halbe Sowjetunion noch in Schutt und Schmerz am Boden. Von Berlin bis Bombay, von New York bis Nagasaki litt man unter jener Schockstarre, die der Holocaust, Hiroshima und die anderen Menschheitsverbrechen des Zweiten Weltkrieges ausgelöst hatten.
Mindestens zwanzig Jahre sollte diese posttraumatische Belastungsstörung der Weltgesellschaft andauern. Zwei Jahrzehnte, in denen die Menschheit über Kontinente und Kulturen hinweg erstmals über gemeinsame Erfahrungen nachdachte. Krieg und Rassismus, Völkermord, Vertreibung und Despotenwillkür hatten vor allem eins offengelegt: Der westliche Humanismus befand sich in seiner tiefsten Krise.
Plötzlich stellten sich Künstler auf allen Kontinenten dieselben Fragen, thematisierten ähnliche Probleme und fanden zu vergleichbaren Formlösungen. Daraus erwuchs eine Weltsprache der Bilder. So die These der Mammutschau »Postwar« im Münchener Haus der Kunst. Mit weit über 300 Arbeiten von mehr als 200 Künstlern betrachtet der Direktor und Hauptkurator Okwui Enwezor die Kunst der Nachkriegszeit nicht als europäisches oder westliches, sondern als globales Epochenphänomen. Eine Perspektivenkorrektur, mit der Enwezor den dezentralen, international vernetzten Ansatz der von ihm verantworteten Documenta 2002 ins Historische verlängert (und außerdem das zeitgleich laufende »Kunst in Europa«-Projekt im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie durch einen inhaltlich umfangreicheren Zirkelschlag überbietet). Am Ende des Münchener Parcours hat man viele, zum Einordnen und Reflektieren fast zu viele unbekannte Positionen aus allen Erdteilen kennengelernt.
Zunächst allerdings stößt man auf einen Stützpfeiler des hiesigen Kanons. Da verteilt sich auf dem Boden des Eingangsraums Joseph Beuys’ postapokalyptisches Trümmerfeld »Hirschdenkmäler«: ein rostbraunes Ensemble aus bizarren Gerätschaften und seltsamen Wülsten, die an Knochen oder Exkremente erinnern. Doch schon im Nachbarsaal wird die Beuys’sche Privatmythologie von ihrem historischen Bezugsrahmen eingeholt: den kohleschwarzen Leichen im pulverisierten Nagasaki. Yosuke Yamahatas schockierende Fotoreportage, kurz nach dem Abwurf der zweiten Atombombe entstanden, wurde auf Geheiß der Amerikaner lange unterdrückt.
Denn auch politische Machtinstanzen wachen darüber, wer ins Bildgedächtnis einziehen darf und wer nicht. Ein Denkmuster von Inklusion und Exklusion, das der gebürtige Nigerianer Enwezor durchbrechen will. Gewiss, auch er zeigt Werke wie die Kreuzigungsgrotesken von Francis Bacon oder Pablo Picassos Antikriegsbild »Massaker in Korea«, doch unter das museal Durchgesetzte mischen sich der Mexikaner David Alfaro Siqueiros mit einer rassistischen Folterszene und der südafrikanische Bildhauer Lucas Sithole, denen eindringliche Beispiele für die künstlerische Verarbeitung von Tod und Gewalt gelingen.
Diesen Bezug zum Allgemeinmenschlichen ließ sich die Kunst von keiner Behörde, keiner Geschmacksdiktatur verbieten, obwohl der Kalte Krieg auch die Kunst in zwei Lager zu spalten drohte. Hier die sozialistisch-realistischen Tendenzen des Ostblocks, dort der Abstrakte Expressionismus und das Informel des Westens, wo man im Figürlichen sofort kommunistische Feindpropaganda vermutete. In den künstlerischen Werken aber verwischt sich dieser scharf gezogene Frontverlauf. Die frühen Arbeiterbilder des DDR-Malers Willi Sitte etwa ignorierten das Naserümpfen der Kunstkommissare und wagten einen proletarischen Kubismus. Noch weiter ging der Tscheche Jiri Kolár, wenn er mit seinem experimentellen »Rasierklingengedicht« die offizielle Kunstdoktrin verhöhnt.
Umgekehrt behauptete sich auch außerhalb der sozialistischen Länder eine vom Stil her traditionelle Historienmalerei mit gesellschaftskritischem Anspruch. Der Franzose Boris Taslitzky tritt mit seiner Massenrauferei zwischen Hafenarbeitern und Polizisten gar in die revolutionsromantischen Fußstapfen von Eugène Delacroixs berühmtem Barrikadenbild.
Meist waren es Künstler aus marginalisierten Gruppen, die auf der figürlichen Position beharrten. So bannt der Palästinenser Ismail Shammout die Vertreibung tausender Araber durch die Israelis in biblisch anmutende Massenszenen, so bringt Ben Enwonwu mit einer surreal-ethnologischen Masken- und Figurenparade Afrikas neu erwachtes Selbstbewusstsein zum Ausdruck.
Trotzdem - nicht alles, was man noch nie gesehen hat, ist automatisch auch unvergesslich. Rein werkästhetisch schüttelt der Besucher immer wieder über Mittelmäßiges den Kopf. Das ist wohl der Preis für die Vielfalt und die Vollzähligkeit, auf die es in München ankam. Leider wird dabei das anfangs noch Einleuchtende durch immer neue thematische Abzweigungen verkompliziert. Nicht nur der Betrachter, auch Werke wie Jean Dubuffets Art-Brut-Monster, die Körperverfremdungen des Syrers Marwan Kassab-Bachi oder das spätkubistische Gespenst von Rubino Tamayo (Mexiko) sind überfordert, wenn sie vom Katalog zu »Neuen Menschenbildern« erklärt werden. Und ist es, um den Weg der freien Abstraktion zur kreativen Weltwährung nachzuzeichnen, wirklich nötig, Jackson Pollocks getröpfelte Improvisationen mit all dem schlappen Pinselcrossover zu umgeben, das in der Nachfolge des US-Rebellen zwischen Paris und Korea entstand?
Aber vielleicht liegt die Aktualität der »Postwar«-Periode genau darin, dass die Menschheit hier erstmals lernen musste, mit Überkomplexität und Dezentralisierung irgendwie zurechtzukommen. Das Internetzeitalter jedenfalls hat diese Dinge nicht erfunden.
Bis 26. März, Prinzregentenstr. 1, München, montags bis sonntags 10-20, donnerstags bis 22 Uhr.
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