Terror in der Silvesternacht

Beim Anschlag auf einen Istanbuler Club deutet vieles auf einen islamistischen Hintergrund

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 4 Min.

Das neue Jahr beginnt in der Türkei so bitter, wie das alte geendet hat: Mit Terror - und mit Toten. Dutzende Menschen sind im Istanbuler Club »Reina« in der Silvesternacht einem Anschlag zum Opfer gefallen.

Von Jan Keetman

Die Türkei kommt nicht zur Ruhe. Schon wieder ein Terroranschlag, schon wieder in Istanbul. Diesmal war es ein einzelner, aber wohl präparierter Attentäter, der in der Silvesternacht den +wohl bekanntesten Nachtclub »Reina« am Bosporus stürmte. Zuerst erschoss er einen Polizisten am Eingang, dann so viele Gäste wie möglich. Wobei er mehrmals das Magazin seiner Kalaschnikow wechselte. Nach genau sieben Minuten konnte der Angreifer fliehen. Zurück ließ er mindestens 39 Tote, darunter mehrere Ausländer, und 65 Verletzte. Hunderte von Besuchern des Nachtclubs hatten sich durch einen Sprung in das eisige Wasser des Bosporus gerettet.

Nach dem Anschlag wird darüber diskutiert, ob nicht mehr für die Sicherheit hätte getan werden können. Am 29. Oktober hatten die USA ihre Bürger vor möglichen Anschlägen auf Menschenmengen in der Türkei gewarnt und sich dabei auch explizit auf Neujahrsfeierlichkeiten bezogen. Tatsächlich hatte die Polizei ihre Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Zum Beispiel wurden im Vergnügungsviertel Beyoglu, mehrere Kilometer vom Ort des Anschlages entfernt, Taschen kontrolliert.

Vielleicht hätte mehr getan werden können, andererseits ist es natürlich unmöglich in einer Stadt wie Istanbul alle größeren Silvesterpartys und Menschenansammlungen zu schützen. Doch die Kritik geht tiefer. Der Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu warf der Regierung am Sonntag insgesamt eine falsche Antiterrorpolitik vor. Schaut man in die Statistik, so ist die Türkei sicherlich das erfolgreichste Land in der Terrorbekämpfung weltweit. Tausende von Terroristen, beziehungsweise ihre mutmaßlichen Unterstützer sitzen im Gefängnis.

Doch das Bild relativiert sich, wenn man sich ansieht, wer alles in der Türkei wegen Terrorismus einsitzt. Kurz vor Weihnachten erklärte das Innenministerium, dass alleine in den letzten sechs Monaten über 1600 Personen inhaftiert wurden, weil sie mit Äußerungen im Internet Terrororganisationen unterstützt oder »die Großen des Staates« herabgesetzt haben. Gegen Tausende weitere laufen aus dem gleichen Grund Verfahren. Nach Angaben des Türkischen Journalistenvereins, befinden sich derzeit 143 Journalisten im Gefängnis.

Manchmal kann man sich schon fragen, ob sich die türkische Regierung nicht mehr wegen ihrer eigenen Kritiker sorgt als wegen wirklicher Terroristen. Doch es ist nicht nur das, was auffällt. Während bei Anschlägen, die der PKK oder ihrem Umfeld zuzurechnen sind, das Kind sehr rasch beim Namen genannt wird, geschieht das gleiche nicht, wenn die Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) verdächtig ist. Es gibt sogar Türken, die sagen, wenn die Regierung nicht gleich einen Verdächtigen nennt, dann war es der IS.

Der Verdacht ist diesmal geradezu mit Händen zu greifen. Alle Anschläge der PKK richteten sich primär gegen Polizei oder Militär, wobei aber eine größere Zahl ziviler Opfer in Kauf genommen wurde. Der Anschlag auf das Lokal Reina erinnert dagegen sehr an die Anschläge von Paris und Berlin. Es wird ein Ort mit vielen Menschen angegriffen, die entweder keine Muslime sind oder einer Tätigkeit nachgehen, die von orthodoxen Muslimen abgelehnt werden. Ziel ist es dann, so viele Menschen wie möglich zu töten.

Dieses Jahr hatte die staatliche Religionsbehörde in einer offiziellen Predigt Neujahrsfeiern sogar mit »Sünde« gleichgesetzt. Sie seien etwas, was »anderen Kulturen, anderen Welten« angehöre. An vielen Orten wurden Flugblätter verteilt, die sich gegen Neujahrsfestivitäten richteten.

Kilicdaroglu sprach in seiner Erklärung auch von einem Angriff auf »unsere Lebensgewohnheiten«. Wenn der Anschlag wirklich vom IS verübt wurde, und alles sieht danach aus, so hat er sich in einen innertürkischen Kulturkampf eingeschaltet, in dem er dem Regierungslager ideologisch nahesteht. Die türkische Regierung hat sich offenbar in ihrem eigenen, aus politischen Gründen gedehnten Terrorbegriff verfangen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -