Der mächtige Furor der Irrationalität
Wie mag sich vor vielen Jahren, sagen wir so um 1933, in Deutschland ein Gespräch am Frühstückstisch angehört haben - bei einem ganz normalen Ehepaar, das sich politisch als nicht extrem bezeichnet hat. »Die Juden haben zu viel Einfluss«, hat vielleicht der Ehemann nach der morgendlichen Lektüre der Tageszeitung geraunt. Seine Gattin mag ihm möglicherweise widersprochen haben, worauf er ihr vorwarf, die Realitäten zu leugnen, schließlich gebe es unter den Ärzten, Rechtsanwälten, Künstlern und Intellektuellen deutlich mehr Juden als ihrem Bevölkerungsanteil gemäß. Das zu meinen habe aber nichts mit Judenfeindlichkeit zu tun!
Fraglich, ob an diesem Punkt die werte Gattin überhaupt noch den Mut besaß, ihrem Mann zu entgegnen, dass z.B. ein jüdischer Arzt seine Patienten wohl nicht anders kurieren werde als sein nichtjüdischer Kollege, ein jüdischer Jurist die gleichen Gesetze anwende wie ein nichtjüdischer und jeder Musiker die gleichen Noten, jeder Maler die gleichen Farben verwende.
Die neuzeitliche Variante dieser Diskussion muss man sich ungefähr so vorstellen: Am Frühstückstisch ereifert sich der eine polternd über kriminelle Ausländer, islamistischen Terror und soziale Ungerechtigkeit und meint, dafür sei Bundeskanzlerin Merkel verantwortlich, weil sie im Spätsommer 2015 die deutschen Grenzen für Flüchtlinge geöffnet habe. Der leise vorgetragene Widerspruch des anderen wird mit der harschen Zurechtweisung gekontert, der Einwender wolle wohl die Realitäten leugnen, schließlich hätten sich erst jüngst in Köln wieder Horden von kriminellen »Nafris« zusammengerottet und wolle Merkel Flüchtlinge vom Mindestlohn ausnehmen, wodurch die Arbeitgeber Lohndumping betreiben könnten. Das dürfe man wohl noch sagen, ohne gleich in die rechte Ecke gestellt zu werden!
Es ist zu befürchten, dass die Entgegnung schon nicht mehr ausgesprochen wird, dass Terroristen sich auch nicht von geschlossenen Grenzen von ihrem Tun abhalten lassen, ein Dieb aus Tunesien oder Marokko seinen Opfern auch nicht anders das Hab und Gut stiehlt als ein Bayer, Schwabe, Sachse oder Mecklenburger und dass der Vorwurf der Billiglohnkonkurrenz schon falsch war, als er vor Jahrzehnten von Männern gegen berufstätige Frauen erhoben wurde. So mächtig ist der Furor der Irrationalität mittlerweile.
Geschichtliche Erinnerung ist ein flüchtig Ding; sie entschwindet, je mehr Zeit verstrichen ist. jam Foto: akg-images/H.A
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