Das Kreuz ist an der richtigen Stelle
Kurt Jotter hinterfragt den Vorwurf, Andrej Holm habe bewusst gelogen.
Es war erschütternd mit anzusehen, wie die Gräben der Vergangenheit den überfüllten Raum zerteilten. Es waren nicht nur Gräben der Geschichte, auch Gräben zwischen Generationen, Familien und Weltanschauungen, die sich auftaten über der Frage des Abends, was Staatssekretär Andrej Holm mit 18 Jahren gedacht und gemacht hat.
Es ging damit um eine der bewegendsten Phasen des Lebens, in der Entscheidungen getroffen werden: zwischen Loyalität und Opposition, zwischen Geborgenheit durch Gehorsam und Unsicherheit durch Widerstand. Zwischen dem Betriebssystem »Familie« und dem eigenen Weg – wie im Fall von Holm. Theoretisch hätte Holm trotz familiärer Regimetreue opponieren können – das tun aber leider nur die Allerwenigsten. Diese Stärke rückschauend zu verlangen, ist in hohem Maße anmaßend.
Kurt Jotter, Jahrgang 1950, ist Grafiker, Publizist und Theaterwissenschaftler. 1987 gründete er mit Barbara Petersen die Künstlergruppe »Büro für Ungewöhnliche Maßnahmen«. Seit 2013 kämpft er mit seiner Kommunikationsguerilla vor allem gegen steigende Mieten und Verdrängung. Er setzt sich für die Vernetzung stadtpolitischer Initiativen ein.
Jetzt streiten sich die Geister, ob Holm sein Kreuz an falscher Stelle gemacht hat. Mit deutscher Gründlichkeit bemüht man sich, die Widersprüche zwischen Erinnern und Vergessen aufzudecken. Dabei ist es doch ein gewaltiger Unterschied, ob eine frühere Situation subjektiv als Routine erlebt worden ist oder als Ausnahmezustand. Bei Routinen erlischt die Erinnerung – besonders dann, wenn man sein Verhalten im Nachhinein als falsch und peinlich wertet.
Ausnahmesituation hingegen – brutale Behandlung von Menschen, wie sie viele Regimegegner erlebt haben – bleiben ein Leben lang in Erinnerung, auch den Tätern. Dies war hier aber ganz offensichtlich nicht der Fall. Der Vorwurf einer bewussten Lüge seitens Holm muss deshalb bezweifelt werden.
Es ist keine Frage, dass Fakten nicht unter den Teppich gekehrt werden dürfen. Wichtig ist aber ein differenzierter Umgang mit dem Einzelfall, der in der Causa Holm zu kurz kommt: So war Holm erst 18, seine Anstellung dauerte nur fünfeinhalb Monate und er kann heute eine Biografie vorweisen, die ihn als äußerst engagierten und demokratisch gesinnten Menschen ausweist.
Was sein Engagement angeht, hat er sein Kreuz in jedem Fall an der richtigen Stelle gemacht – für eine Wissenschaft, Forschung und Lehre, die den sozialen Interessen der Mehrheit der Menschen zugewandt ist. Er ist darüber hinaus ein Experte, der bereit und fähig ist, zu helfen, seine Erkenntnisse in politisches Handeln umzusetzen. Die riesige Welle von Spekulationen mit Wohnraum, die unserer Stadt erst noch bevorsteht, erfordert dieses Handeln in höchstem Maße – es ist existenziell und muss ganz oben auf die Agenda.
In den vergangenen beiden Jahrzehnten hat sich Holm nicht nur ein wissenschaftliches Renommee erworben, sondern die erkennbare soziale Schieflage deutlich gemacht. Er hat sich damit gegenüber seinen »Jugendsünden« um ein Vielfaches rehabilitiert. Er hat vielen Initiativen der Stadtgesellschaft mit Rat zur Seite gestanden und damit Vertrauen geschaffen. Diese Initiativen haben seine Nominierung als ersten ernsthaften Schritt zum Dialog über die Umsetzung der sozialen Programmatik Rot-Rot-Grüns wahrgenommen. Eine Entlassung Holms würde ein solches Vertrauen auf einen Schlag zunichte machen.
Nicht zuletzt ist es deshalb auch schlicht unverständlich, warum die politische Entscheidung über Holms Schicksal von einer arbeitsrechtlichen Auseinandersetzung mit der Humboldt-Universität abhängig gemacht werden soll.
Lesen Sie auch den Bericht zur Podiumsdiskussion mit Andrej Holm am Freitagabend.
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